6943398-1983_36_09.jpg
Digital In Arbeit

Allgegenwart des Nihilismus

19451960198020002020

„Zweifellos kann manches rechtzeitig verändert, manchem zuvorgekommen werden, wenn die Verantwortung einmal erkannt ist”: Wolfgang Kraus über das Anliegen seines neuen Buches.

19451960198020002020

„Zweifellos kann manches rechtzeitig verändert, manchem zuvorgekommen werden, wenn die Verantwortung einmal erkannt ist”: Wolfgang Kraus über das Anliegen seines neuen Buches.

Werbung
Werbung
Werbung

So klassisch-lapidar seine Eingangsdefinition des Nihilismus (Verneinung in besonderem Ausmaß: Er verneint die geltenden Werte, ohne daß er andere Werte kennt) ist, so sorgfältig und umfassend seziert dann Wolfgang Kraus die vielfältigen Erscheinungsformen ęles Nihilismus und das erschreckende Ergebnis von Wertvernichtung, Zerstörung, Selbstzerstörung in unserer Zeit.

Hierzu dient dem Autor ein Denkmodell von nicht weniger als sieben scheinbaren, letzten Endes aber komplementären Gegen-

satzpaaren: bürgerlicher — anarchischer, bürokratischer — individueller, materialistischer — hedonistischer, klerikaler — atheistischer, akademischer — positivistischer bzw. ästhetischer, despotischer - resignativer, dogmatischer — dionysischer Nihilismus. Eine interessante, gewagte Konstruktion, die freilich von den Mängeln und Zwängen jeder Schematik nicht fnei ist.

Diesem — zugegeben — komplizierten Begriffsschema folgt eine sehr klare Unterscheidung zwischen dem „historischen” und dem „Nihilismus heute”. Der historische zeigt drei Strömungen: eine philosophische mit starken Wurzeln in Deutschland (Scho- ‘ penhauer, Feuerbach, Stirner, Nietzsche, Wagner, Heidegger, Benn, Jünger); eine politisch-soziale, die vor allem in Rußland wirksam wurde (Turgenjew, Herzen, Bakunin, Kropotkin); eine ästhetische, die besonders vielfältig in Frankreich und England zu beobachten war (Baudelaire, Rimbaud, Lautrėamont, Camus, Byron, Wilde).

Dieser aufschlußreichen, immerhin die Hälfte des Werkes umfassenden Geographie und Geschichte des Nihilismus folgt der interessanteste und originärste Abschnitt des Buches. Wolfgang Kraus stellt hier eine tiefgreifende „Mutation des Nihilismus” •fest:

„In so gut wie allen Problemen der Gegenwart stecken die Viren einer Epidemie, die längst eine Pandemie geworden ist… In der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaftsordnung, in den Schulen, in den Familien, den Kirchen, im Generationskonflikt findet man jene Tendenzen der Wertver- niehtung, der Zerstörung, Selbstzerstörung, Selbstaufgabe, welche die meisten unserer Probleme erst unlösbar werden lassen.”

Der Autor fragt, wodurch diese Mutation des „historischen Nihilismus” zum „pathologisch-destruktiven Nihilismus” von heute geworden sei. „Man könnte sagen, durch eine Verschmelzung von Nihilismus und Neurose, durch eine Art KernfusionSie sind die Ursache jener explosiven Entwicklung, jener Pandemie, die heute in fast alle Verhältnisse und Probleme eingedrungen ist.”

Und nun werden „einige der oft fast unerkennbaren Spuren und Zeichen, die auf den eigentlichen Nihilismus hindeuten” bloßgelegt: Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmißbrauch, Egozentrik, Frivolität der Wahrheit gegenüber, kritiklose Toleranz, Streben nach Macht um der Macht willen, Zynismus, Verbrechen, Betrug, Bestechlichkeit, Korruption, Verdrängung und Verschweigung der eigenen Ge schichte usw.

„Erst mit der Mutation des Nihilismus in der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart wurde apokalyptischer Ernst aus den früheren nihilistischen Abenteuern.” Es darf wirklich nicht verwundern, wenn aus gewisser Richtung gegen eine so klare und mutige „Unterscheidung der Geister” dröhnendes Aufheulen zu vernehmen sein wird.

Noch heftigerer Widerspruch ist zu erwarten, wenn Kraus dann die psychologischen Hintergründe der um sich greifenden Verneinung im Zusammenhang mit Neurosen, Drogensucht, pathologischer Aggression, Kriminalität und Tendenzen zum Selbstmord ausleuchtet. In der Überschau der Untersuchungem’von Alfred Adler, Sigmund Freud, C. G. Jung, Theodor Reik und Konrad Lorenz beobachtet der Autor eine erstaunliche Konstellation.

Trotz aller Verschiedenheit anderwärts finde man bei Adler, Reik und Lorenz eine unerwartete Gemeinsamkeit: „Adler sieht die Hauptschuld an diesen Erscheinungen in der Verwöhnung und Vernachlässigung des Kindes, Reik in der sado-masochistischen Verschiebung zu einem pervertierten Lustgewinn, Lorenz in einer Fehlentwicklung der Natur, die vom Faustkeil zur Atombombe geführt hat’.”

Ebenso wird eine unverkennbare Gemeinschaft des späten Freud und seines Schülers C. G. Jung festgestellt: So wie dieser durch seine Entdeckung des „kollektiven Unbewußten” und der „Archetypen” unmittelbar an die Grenzen des real Faßbaren gestoßen sei, hätte der späte Freud mit der Entdeckung des Todestriebes eine ganz andere und tiefere Motivation unzähliger Neurosen gefunden.

Die inneren Nöte unserer Zeit, die tiefe Vereinsamung und Ver- störung, die erschütternden Verzweiflungsrufe und apokalyptischen Visionen von Schriftstellern und Künstlern wurden zu Signalen, daß wir an äußersten

Grenzen und Abgründen angelangt sind. „Diese Kunst ist in der Literatur vielfach beim Schweigen angelangt, in der Musik beim Lärm oder beim Verstummen, in der Bildenden Kunst bei der leeren Fläche, der veränderten Natur.”

Aber auch die den Nihilismus überwindende neue Motivation des Wertbewußtseins bei sowjetischen Dissidenten, polnischen und tschechischen Schriftstellern und schließlich der weitum erkennbare Abschied von der nihilistischen Dialektik bei Autoren im deutschen und angloamerika- nischen Sprachbereich zeigen Ansätze einer Wende.

, Am Beispiel von zwei dem Autor besonders nahestehenden Schriftstellern, Elias Canetti in seiner Münchner Rede 1976 und Peter Handke in seiner „Langsamen Heimkehr” und vor allem in seiner „Geschichte des Bleistifts”, wird diese Wende überzeugend flachgewiesen.

Am Schluß bietet Wolfgang Kraus noch eine ganz persönlich zurechtgelegte Therapie. Fast wörtlich wie in seinem vorletzten Buch „Die verratene Anbetung” wiederholt er den Vorschlag einer dreistufigen Werthierarchie: Grundwerte wie Frieden, Sicherheit und Liebe; Sekundärwerte wie Freiheit, Wahrhaftigkeit, Bildung; Sinnwerte wie tätige Nächstenliebe, kulturelles Wirken, religiöses Erleben — und zwar als individuelle Bestrebungen wie auch als Verwirklichung in Schulen, Gruppen, Familien. Niemand könne sich von der Mitverantwortung am Zeitgeist guten Gewissens vollkommen dispensieren.

Seine Antwort schließlich auf die Frage, was eigentlich das Gegenteil von Nihilismus sei, ist verblüffend kühn und ginge unserei- nem viel schwerer von den Lippen als dem Autor; seine Antwort lautet: „Religiosität mit humaner Wertbezogenheit. Man könnte ein neues Wort wählen, das die tätige Orientierung auf humane Werte akzentuiert: .Valorismus* in religiöser Haltung, das wäre mehr als konservativ und wertbewahrend: nämlich wertaktivierend.” — Ein not-wendiges Buch!

NIHILISMUS HEUTE ODER DIE GEDULD DER WELTGESCHICHTE. Von Wolfgang Kraus. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1983. 181 Seiten, öS 180,^-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung