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Digital In Arbeit

Vorsicht vor Scherbengerichten!

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Nun, nach dem Ausgang der deutschen Wahl, glauben politische Analytiker und Manipulatoren der öffentlichen Meinung ihre Stunde gekommen: da sieht man es wieder, wohin konservative Starrheit führt, da sieht man weiter, daß durch die Welt ein sozialdemokratisch-liberaler Zug geht, daß das „Liberale“ — Zwischenruf: Was ist das überhaupt? — sich akzentuiere, fort also mit alten Ladenhütern, hinein ins kalte Wasser des Progres-sismus, auf zum Autodafe der Begriffe von gestern und solchen, die für gestrig gehalten werden!

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Nun, nach dem Ausgang der deutschen Wahl, glauben politische Analytiker und Manipulatoren der öffentlichen Meinung ihre Stunde gekommen: da sieht man es wieder, wohin konservative Starrheit führt, da sieht man weiter, daß durch die Welt ein sozialdemokratisch-liberaler Zug geht, daß das „Liberale“ — Zwischenruf: Was ist das überhaupt? — sich akzentuiere, fort also mit alten Ladenhütern, hinein ins kalte Wasser des Progres-sismus, auf zum Autodafe der Begriffe von gestern und solchen, die für gestrig gehalten werden!

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Zunächst einmal heißt es, sich die besondere Datenkonstellation dieser deutschen Wahl in Erinnerung zu rufen, was allein schon einem Scherbengericht vorbeugen könnte. Bis zum Überdruß wurde die außenpolitische Komponente dieses Votums ebenso beschworen wie das Vaterimage Willy Brandts, weniger Beachtung fand hingegen der unbestreitbar deutsch-nationale Einschlag, der viele für den „Friedenskanzler“ votieren ließ (etwa nach dem Motto: Jetzt sind wir wieder wer!).

Ein zweites: Ohne Zweifel hat eine Massenmanipulation, insbesondere durch die „linke“ Politisierung der Rundfunk- und Fernsehanstalten, dazu beigetragen, Spitzenleute der Unionsparteien zu Buhmännern der Nation zu machen.

Es soll aber auch nicht geleugnet werden, wie sehr die gedankenlose Ungeschicklichkeit realitätsfremder Wirtschaftskreise dazu beigetragen hat, das Image der Unionsparteien zu verschlechtern. Es ging einfach nicht an, daß ohne Koordination mit der Wahlstrategie von CDU/CSU einzelne kapitalkräftige Gruppen die

Zeitungen mit einer Inseratenkampagne überschütteten, deren Diktion oft schlechter war als die des „Völkischen Beobachters“. (Die Gestalter mancher dieser Anzeigen dürften sich schon seinerzeit beim „VB“ ihre Sporen verdient haben ...) Bezeichnend dafür ein unmittelbar nach der Wahl geführtes Gespräch mit einem deutschen Freund, seines Zeichens hochqualifizierter Mitarbeiter eines Wirtschaftsverbandes, das darin gipfelte: Man greift sich an den Kopf, wie instinktlos führende Wirtschafter in politicis zu handeln vermögen. Könnt ihr Österreicher unseren Herren nicht Nachhilfestunden geben, wie man taktvoll, besonnen und mit politischer Verantwortung agiert? So mancher deutsche Bergassessor wird nun stille Selbstbesinnung halten ...

Was aber die Verteufelung des Konservativen und das Hochloben des Liberalen betrifft, so sei in aller Deutlichkeit eines festgestellt: Der Begriff „konservativ“ ist zu ernst, um den Konservativen (insbesondere vielen, die sich dafür halten), der Begriff „liberal“ zu ernst, um den Liberalen (sprich Linksliberalen) allein überlassen zu bleiben. Hier müßte die analytische Sonde schon tiefer angesetzt werden.

In Sachen „konservativ“: Der um eine Ausdeutung dieses Begriffes im Sinne einer Vorwärtsstrategie geradezu kämpferisch ringende Gerd-Klaus Kaltenbrunner (er hat dafür jüngst die Quittung von seinem nun auch zum Konformismus strebenden Verlag erhalten) hat in seinen „Zehn Geboten für Konservative“ festgestellt, daß der Konservative den Mut haben müsse, sich gegen den Vorwurf, ein solcher zu sein, nicht zu wehren. Er solle aber auch mißtrauisch gegenüber jenen sein, „die sich vielleicht nur aus Snobismus, Sentimentalität oder Vorliebe für' Altertümer als Konservative ausgeben“. Konservativ sein bedeute in unserer Zeit erbarmungslosen Verzicht auf Illusionen und „abendländische“ Lebenslügen. Gerade der Konservative müsse den Mut haben, auf die Zukunft zu setzen, er brauche weniger konservativ zu sein als die Marxisten und Linken aller Couleurs. Denn konservativ sei eine Disziplin für Nonkonformisten.

Wer mit feinen Radarantennen die Strömungen der Zeit zu erfassen versucht, der wird merken, daß ein Zug zum Konservativen — im Sinne von solid, reell, nicht überlagert von Utopien und vor allem futurologischen Mätzchen — nicht zu übersehen ist. Die Wahlresultate in den Vereinigten Staaten und in Kanada sind kein Zufall. Deutschland hat diese Entwicklung noch vor sich. Denn für Brandt-Scheel kommt erst die Stunde der Wahrheit; dann, wenn sie von der Nichtbewältigung innerer Aufgaben nicht mehr durch Interessenverlagerung auf Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik abzulenken vermögen. Es ist ein Gesetz der deutschen Geschichte, daß die Deutschen alles übertreiben. Sie übertreiben nun auch den „Sozialismus“, auch wenn da und dort zu hören ist, dieser sei unaufhaltsam.

Und was Liberale betrifft, so bittet einer, der sich den vielgeschmähten Liberalen zuzählt, daß auch dieser Begriff gereinigt — „kritisch“, würde man heute sagen — dargestellt werde. Vieles, was sich heute, insbesondere in der Freien Demokrati-schen^artei Deutschlands, als „liberal“ geriert, verdient nicht diese Bezeichnung. Denn unübersehbar ist auch hier der Kampf zwischen den Spielarten eines Liberalismus, der sich heute oft leider vorzugsweise als völlig wertfrei, voraussetzungslos und ausschließlich nach dem schielend, was er — im Augenblick! — für fortschrittlich hält, gebärdet.

Diese Feststellungen gewinnen ihre Aktualität aus dem neuen Abschnitt der Arbeit, den die Österreichische Volkspartei mit ihrem Salzburger Parteitag einzuleiten im Begriff ist. Man hört förmlich jene, die nun, gestärkt durch das Bonner Resultat vom 19. November 1972, mit Erfolgsrezepten schnell zur Hand sind. Der deutsche Wahlausgang hat gewiß seine Folgen auch für das übrige Europa, darunter auch Österreich. Aber Österreich ist — Gott sei's gedankt — nicht Deutschland.

Darum heißt es in Richtung Salzburg: Vorsicht vor Scherbengerichten! Die geistigen und gesellschaftlichen Strömungen dieser Zeit sind zu kompliziert, sie erfordern vor allem eine genaue Ausdeutung, als daß aus Spontanreaktionen politische Weichenstellungen, etwa im Sinn Sozialdemokratismus-Linksliberalisrnus, vorgenommen werden sollten!

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