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„Wir brauchten mehr Humanität"
Auch in der Fernsehdiskussion der Präsidentschaftskandidaten ging es wieder um Fragestellungen, die im Laufe der Wahlkampagne schon mehrfach gestellt und beantwortet worden sind. Anderes wurde kaum an- und ausgesprochen. Ein FURCHE-In-terview zu Themen, die nicht unter den Tisch fallen dürften
Auch in der Fernsehdiskussion der Präsidentschaftskandidaten ging es wieder um Fragestellungen, die im Laufe der Wahlkampagne schon mehrfach gestellt und beantwortet worden sind. Anderes wurde kaum an- und ausgesprochen. Ein FURCHE-In-terview zu Themen, die nicht unter den Tisch fallen dürften
FURCHE: Wie würden Sie einem Gesprächspartner, der diese Republik nicht näher kennt, in kurzen Worten beschreiben, was heute die österreichische Identität ausmacht?
THOMAS KLESTIL: Kaum ein Land ist in diesem Jahrhundert in seinem Selbstverständnis und seiner Identität so erschüttert worden wie Österreich. Man spricht von Brüchen in unserer Identität. Erfreulicherweise hat nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur ein materieller, sondern auch ein geistiger Wiederaufbau stattgefunden.
Die österreichische Nation wird von der überwältigenden Mehrheit der Österreicher als Selbstverständlichkeit empfunden. Unsere Identität ergibt sich aus unserem Bezug zu unserer Geschichte und zu unserer Kultur. Österreich hat es in exemplarischer Weise verstanden, Einflüsse von außen zu integrieren und zu einem Ganzen zusammenzufügen.
FURCHE: Welche unverwechselbare Rolle kann Österreich in einem größeren Europa spielen?
KLESTIL: Österreich wird seine durch die Geographie und Geschichte vorgegebene Rolle in bezug auf Osteuropa in dem Maße erfüllen, in dem es in Westeuropa fest verankert ist. Österreich kann aufgrund seiner föderalen Strukturen, die wir einzubringen haben, einen wirkungsvollen Beitrag zur Stärkung des europäischen Föderalismus leisten. Die europäische Einheit ist heute eine existenzielle Notwendigkeit. Nicht im Sinne eines zentralistischen Superstaates, sondern eines föderalen Europas, in dem die historisch gewachsenen Länder und Regionen ihren Platz finden. Das Prinzip der Subsidiarität muß noch viel stärker zur tragenden Idee des neuen Europas werden.
FURCHE: Verfassungsexperten überlegen noch herum, ob denn eine Volksabstimmung vor einem EG-Beitritt wirklich zwingend wäre. Könnten Sie sich vorstellen, daß eine Vertragsunterzeichnung auch ohne Plebiszit erfolgt?
KLESTIL: Ich bin der Auffassung, daß Österreich Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden soll, da es nur dann über seine Zukunft in einem größeren Europa mitbestimmen kann. Ich bin aber ebenso davon überzeugt, daß eine Volksabstimmung dafür absolut notwendig ist, da es sich um eine Verfassungsänderung handelt. Und selbstverständlich hat der Bundespräsident dann den Willen des Volkes zu respektieren. Eine andere Entscheidung ist für mich nicht denkbar.
FURCHE: In der Wahlkampagne wurde die Minderheitenpolitik kaum angesprochen. Kann man das Thema abhaken?
KLESTIL: Für mich steht außer Zweifel, daß Minderheiten, die für mich eine Brücke zum Nachbarn darstellen, eihen besonderen Schutz verdienen und besonders gefördert werden sollen. Ihre Rechte bedürfen der gesetzlichen Absicherung und der internationalen Einbettung. Es darf zu keiner Ausgrenzung kommen, sondern die Mehrheit soll die Minderheiten als Bereicherung empfinden. Die Mehrheit muß der Minderheit stets mehr entgegenkommen als umgekehrt.
FURCHE: Unser Nationalfeiertag erinnert an die Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes. Was dann, wenn der Anlaßfall obsolet werden sollte?
KLESTIL: Am Nationalfeiertag sollten wir uns immer daran erinnern, daß Freiheit nicht ein selbstverständliches Gut ist. Ich würde den Nationalfeiertag jedenfalls unabhängig von dessen Bezug zum Neutralitätsgesetz beibehalten.
FURCHE: Ein kollektives Sicherheitssystem für Europa ist nicht einmal noch in Konturen sichtbar. Was bedeutet das für unsere Sicherheitspolitik?
KLESTIL: Die Frage der kollektiven europäischen Sicherheit ist eine Frage von besonderer Wichtigkeit. Sie haben recht: ein solches Sicherheitssystem ist nicht einmal in Ansätzen sichtbar, allerdings wird es in einer ferneren Zukunft dazu kommen müssen. Unsere Sicherheit liegt auch in der Sicherheit Europas. Oberstes Ziel muß natürlich die Sicherheit Österreichs und seiner Bürger sein. Dazu soll die Außenpolitik dienen und eine effiziente Landesverteidigung, für die auch die entsprechenden Mittel bereitzustellen sind.
FURCHE: Welche gesellschaftlichen Entwicklungen in Österreich machen Ihnen eigentlich Sorgen?
KLESTIL: Ich habe oft den Eindruck, daß sich mit steigendem Wohlstand das Mitleid und das Mitgefühl für sozial Schwächere verringert. Ich meine dabei zum Beispiel den Mangel an Toleranz der Erwachsenen gegenüber der Jugend und umgekehrt, das Fehlen an Verständnis für die Mehrbelastung der Frauen oder die mangelnde Bereitschaft, den Behinderten entgegenzukommen. Sorgen bereitet mir auch die Intoleranz gegenüber Minderheiten und Ausländern. Wir stehen vor einer zunehmenden Relativierung der Werte, die durch das Streben nach materiellem Wohlstand verschüttet werden. Kurzum, wir brauchten wieder mehr Humanität.
FURCHE: Wie halten Sie es mit Religion und Kirche?
KLESTIL: Ich bin Katholik und für mich sind die christlichen Grundwerte Orientierungshilfen für mein Leben. Ich versuche, vor allem dem Gebot der Nächstenliebe zu entsprechen und Toleranz gegenüber Andersdenkenden zu üben. Das Interview führte Hannes Schopf. Wir bedauern, daß ein gleichzeitig vorgetragener Gesprächswunsch mit Rudolf Streicher von dessen Wahlbüro mit dem Hinweis auf Terminschwierigkeiten bis zum 24. Mai abschlägig beantwortet worden ist.
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