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Das konservative Prinzip

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Als konservativ bezeichnet man eine Hai-, tung, die, allgemein gesprochen, die Neigung ausdrückt, gewohnte und erprobte Formen beizubehalten. Wir finden sie in allen Bereichen menschlichen Denkens und Handelns. Wir finden sie sowohl als Charaktermerkmal einzelner Personen, als auch bestimmter und bestimmender kultureller Schichtungen und Strömungen, in der Kunst sowohl wie in der Politik, auf dem Gebiet der Wissenschaft wie der Weltanschauung. In Zeitepochen wie die Gegenwart, deren wesentlicher Inhalt das Suchen und Streben nach neuen Formen ist, verfällt eine konservative Einstellung zu den Zeitproblemen allzuleicht der Geringschätzung und Ablehnung, da man die ihr innewohnende Tendenz als Trägheit, Starre und Hemmschuh der notwendigen Zeitentwicklung empfindet, unter Umständen ihr Trägheit und Starre auch anhaften können. Demgegenüber wird alles Flüssige und Bewegliche von vornherein als fortschrittlich bejaht. Fortschritt, das ist das Wort, das fasziniert und innerhalb seines Bannkreises mit Leichtigkeit zur Aufgabe bisher anscheinend tief verankerter Anschauungen und Grundsätze zwingt.

Daß der Drang nach Neuerung und Fortschritt gerade nach politischen Katastrophen besonders lebhaft ist, legt die Annahme nahe, daß er nicht immer auf bloße Vernunft- und Zweckmäßigkeitsgründe zurückzuführen, sondern oft genug mit Gefühlsreaktionen, Enttäuschung, Verbitterung, Schmerz und Haß gepaart ist. Das Hervortreten von Inkinkten und Leidenschaften aber in einem Augenblick, da kalte Überlegung und ein klarer Verstand zu allererst vonnöten wären, beschwört die Gefahr herauf, daß Einseitigkeit und Fehler gemacht werden, die früher oder später neuerlich zum Unglück führen.

Daraus folgt für jeden, der gewillt ist, sich nicht willenlos von den Dingen treiben zu lassen, sondern im Gegenteil über*ihnen zu stehen — und dies sind die Charaktere, die eine Nation besonders in Übergangszeiten braucht —, die Notwendigkeit einer wachsamen Beobachtung der Motive und Anschauungen, die dem Neubau eines Staates zugrunde gelegt werden sollen. Nur ein möglichst leidenschaftsloses, objektives Auge wird unterscheiden können, welche Änderungen im Sinne der Abkehr von falschen Grundsätzen oder der Fortentwicklung von gesunden Ideen notwendig sind und daher dem wirklichen Fortschritt dienen, und welche Werte und Prinzipien nur vorsichtig oder überhaupt nicht angerührt werden dürfen, wenn nicht neuerlicher Schaden eintreten soll. Die Gegebenheiten auf geistigem Gebiete, die notwendigerweise entwicklungsfähig und entwicklungsbedürftig sind, z u erkennen und in ihrem Lauf zu fördern, heißt wah-haft fortschrittlich sein. Die Werte, die die dauernde unveräußerliche

Grundlage jedweder geistigen Existenz und allen geistigen Lebens bilden, z u erhalten, sie besonders in turbulenten Zeitläufen vor dem vielleicht gutgemeinten aber zerstörenden Übereifer zu schützen, heißt der Menschheit dienen, heißt im rechten Sinne konservativ sein. Keinem noch so fortschrittlichen Regime auf Erden wird es einfallen, etwa das Brot als Grundsubstanz der Nahrung abzuschaffen, bloß weil es schon einige tausend Jahre lang hergestellt wird und nun der Fortschritt einmal etwas anderes verlange. Und gar das geistige Leben, das auf einer weitaus höheren Ebene vor sich geht als der leibliche Mechanismus, sollte keiner Fundamente und unverrückbarer Grundsätze bedürfen? Es sollte zwischen Relativismen und anderen, Ismen in der Luft hängen? Damit würde jede Kultur, jedes sinnvolle Zusammenleben aufhören. Dann wären wir eben bei der babylonischen Sprachverwirrung angelangt, wo einer den anderen nicht mehr verstehen könnte. Ein Rest von ontologischen und ethischen Begriffen muß; den Menschen bei aller Freiheit des Denkens gemeinsam bleiben. Wenn etwa die Begriffe Wahrheit,Gerechtigkeit, Gut und Böse bei verschiedenen Menschen verschiedene Vorstellungen auslösten, hätte jede Diskussion unter ihnen ihren Zweck verloren, da die Grundlagen einer gegenseitigen Verständigung nicht mehr vorhanden sind. Der einzige Weg einer Entscheidung läge dann nur mehr bei Macht und Gewalt.

Ein der Erhaltung solcher Grundlagen dienender Konservativismus ist nicht nur wünschenswert, sondern unveräußerlich wie die Dinge selbst, die er zu schützen hat Freilich muß zugegeben werden, daß sich die Verhältnisse einfacher darstellen als praktisch erkennen lassen. Vor allem ist es, um auch den Forderungen des Fortschrittes gerecht zu werden, notwendig, manche Kultur schlacke, manches Moderige und Morsche, das sich zur FristungseineselendenDaseins unter geschickter Tarnung als unersetzliches Kulturgut konservieren lassen möchte, zu entlarven und in den großen Abfallkorb zu werfen, in den es hingehört. Es gilt, das dem steten Wandel unterworfene Unwesentliche, die bloße Form vom Wesentlichen der eigentlichen Substanz zu unterscheiden. Immerhin dürfen diese Schwierigkeiten den Menschen nicht abschrecken von seiner Doppelaufgabe, fortschrittlich zu sein und — konservativ.

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