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Ein philosophischer Rechenschaftsbericht

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Es ist ein kritisch sichtendes und in Zusammenschau erhellendes Denken, das hier in Verantwortung vor der Zeit steht. Die aphoristische Formung gibt seinen Prägungen ein scharfes und entschiedenes Profil. Der „kritische“ Punkt der Krise wird in kantischen Begriffsbildern aufgefaßt und ans Licht gehoben: „Der Fortschritt der theoretischen, technischen und wirtschaftlichen Vernunft ist enornj, aber der Fortschritt der praktischen, sittlichen Vernunft hat nicht Schritt gehalten und ist ihm nicht gewachsen.“ Die meisterhafte geistesgeschicht-. liehe Analyse enthüllt die entscheidenden Entwicklungsfiguren des modernen Daseins, die „neben dem unaufhaltsamen wirtschaftlichen Fortschritt einen erschreckenden Verfall der Weltanschauungen mit folgenschweren Auswirkungen im Gesellschaftsleben“ erweisen. Das seiner metaphysischen Dimension beraubte Denken geht in die Breite und wird in einer , „einzigartigen Entfaltung der Fachwissenschaften und des Spezialistentums“ empirisch-ober-flächcnbaft. Das dimensior.sverkürzte Denken erweist sich zu einem vollen Bilde der Welt nicht mehr fähig und bringt es nur zu 1 monistischen Einseitigkeiten, die aus unge-reditferrigter Verallgemeinerung spezieller Sachgesetzlichkeiten entstehen. (So ' entsteht der mechanisische Materialismus, der biologische Naturalismus, der Psychologismus, Relativismus, „lauter Pseudophilosophien und monistische Weltanschauungen, ein förmlicher Rückfall in die Mythologene einer primitiven Me^palität“.)

Zu Anfang des Jahrhunderts setzt'die große Wende ein, in der Physik, in der Biologie, in der Psychologie, in der Soziologie; „eine Selbstreinigung des Spezialistentums von großer Tragweite. Jetzt sind es wieder die Fachwissenschiften, die von ihren neuen Ergebnissen zu umfassenden metaphysischen Horizonten gedrängt werden.' Und in der Philosophie, der „man schon das Sterbelied ' sang“, zeigt sich die Überwindung des logischen, ethischen “ und soziologischen /Relativismus des 19. Jahrhunderts. Seit Dilthey befindet sich die Weltanschauungskritik im fortschreitenden Ausbau ihrer Methoden, mit denen sie die falschen monistischen Weltbilder in den typischen Einseitigkeiten entlarvt.

Es ist außerordentlich bedeutsam, daß dieser Umschwung des gesamten wissenschaftlichen Denkens ausging von der Erschließung der Feinstrukturen der Materie in der Atomforschung, des Lebens in der Zellforschung und des Geistes in der charakterologisch betonten Persönlichkeitspsychologie und philosophischen Anthropologie (M. Scheler). So zeichnet sich makrokosmisch in den Wesensunterschieden von Materie, Leben und Geist das große Schichtenbild der Wirklichkeit (N. Hartmann) ab, das sich gleichsam mikrokosmisch in der leib-seelisch-geistigen Einheit des Menschen konzentriert darstellt Die wissenschaftliche Philosophie bahnt sich heute den Weg „zu einem integralen Humanismus, zu einer neuen Vollreife des Menschenbildes“.

Also doch Fortschritt durch alle Krisis hin-dutch, also doch die Oberwindung der Fort-schrittskrise? Dem ist nicht so. Es bleibt der ethische und soziale Fortschritt aus. Der weitanchauliche und ethische Niedergang erreicht die größte Tiefe und das weiteste Ausmaß verheerenden Wirkens. Der dem .Atheismus entstiegene Nihilismus zeigt hüllenlos sein grauenerregendes Gorgonenhaupt. Vor diesem schrecklachen Anblick löste sich die bürgerliche Fortschrittsgläubigkeit — nicht in „heilsame insecuritas“, sondern in eine heillose Daseinspanik aus. Die Krisis des Fortschrittsglaubens als „Fortschritts-leugnung aus Weltangst“ will Dempf tiefen-psychologisch als „Überkompensation de» Minderwertigkeitsgefühls“ bei den geschlagenen Mächten des ersten Weltkrieges deuten.

Im aktivistischen Westen, dem die Sorge um den Fortschritt nicht fremd ist, zeigen sich die „Ansätze zur Überwindung der Fortschritts-kise“»im Räume der Demokratie, wo die Parteien, die liberalen, sozialistischen und christlichen Demokraten, Selbstkritik gelernt haben, Parteidogmen aufgeben, ja sogar alte Ideologien über Bord werfen“. So lösen sich die alten Ideologien aus ihrer unfruchtbaren Erhärtung und wandeln sich bis in den grundsätzlichen Gehalt. Das Divergieren, das Hervorkehren der Gegensätze, wird abgelöst durch ein Konvergieren auf einen gemeinsamen Schnittpunkt — im Endlichen. Dieser gemeinsame Punkt, dieses bonum commune der ganzen Menschheit, ist die umfassende Weltgemeinschaft einer schöpferischen Friedensordnung, die „unvermeidliche, wirtschaftliche und politische, wenn auch nicht staatliche Einheit der Welt“. Diese eine ungeteilte Welt setzt einen ungeteilten Menschen voraus, sozusagen das existentielle Katholon und den schöpferischen Geist, der es zu bilden yermöchte.

Es enthüllte sich das Gedankengefüge einer Studie, die, in ihrer äußeren Erscheinung ein schlichtes Bändchen, in ihrem inneren Gehalt ein bedeutungsvolles Buch der Zeit ist, deren Wirklichkeit und Möglichkeit sie erschließt, nicht als Schicksal, sondern als Aufgabe, die zu lösen ist.

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