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Von den drei Soziologien

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Drei Kräfte, drei soziologische Systeme, ringen um die soziale Neugestaltung der Welt. Das erste System, welches die feudale Ordnung des Mittelalters ablöste und im 19. Jahrhundert seinen Mittag erlebte, war der „I n d J v i d u a 1 i s m u s”. Sein Drehpunkt ist der Einzelmensch, das „Individuum”. Das zweite System, das sich antithetisch mit dieser „individualistischen” Ordnung auseinandersetzt und seit 1918 Geschichte zu machen begann, ist der „T o t a I i s m u s”. Seine fixe Idee ist das Ganze, die Gemeinschaft allein, das „To- tum”, wovon ausschließlich ausgegangen wird. Das dritte System, das im Sperrfeuer dieser Extreme steht, das kein Ausweg ist, sondern der „dritte Weg”, die „dritte Kraft”, versucht ein neues Sozialbild auf Grund der freien Geist-Persönlichkeit des Menschen. Es ist der „P ersonalismu s”, heute das Programm des Abendlandes, die Magna Charta der christlichen und der demokratischen Vernunft.

Das erste System, den Individualismus, kennzeichnen folgende Bestimmungsstücke:

Gesellschaft ist Summe der einzelnen.

Gesellschaft ist an sich nichts; sie hat kein Sein, keine Wirkl’hkeit. Sein und Wirklichkeit hat nur der Einzelmensch, das „Individuum”.

Der Einzelmensch, das „Individuum”, ist „eigentlich” kein Gesellschaftswesen. Der Einzelmensch ist ein vorgesellschaft- licbes, ja ein gegengesellschaftliches Wesen. Er ist „Kämpfer”, kein „Nachbar”.

Gesellschaft ist also keine Notwendigkeit, sondern Willkür, ein Vorteil der Starken, ein Vertrag der Sh wachen, auf jeden Fall nur ein Behelf, wozu Trieb und Nutzen den einzelnen treibt. Gesellschaft ist Notstand der Menschen.

Also nur aus äußerliher Hilfsbedürftigkeit und zeitweiliger Trieblust heraus bedürfe der eine den anderen; aus irgendeiner höheren, geistig-sittlichen Haltung heraus — brauche jedoch der eine den anderen nicht. Der eine ist dem anderen vielmehr Feind; und wenn nicht Feind, so doh ein Fremder. Typisch für jede individualistische Gesellshaftstheorie ist daher die innerliche Ablösung des Menschen von der Gesellschaft, die am Ende als etwas Gemähtes, nicht aber als etwas mit dem Menshen Gegebenes begriffen wird. Daraus folgt für jede individualistische Gesell- shaftspolitik zweierlei: die mehr oder wenig eingeschränkte Forderung nach absoluter „Freiheit des Individuums” und die mehr oder wenig eingeshränkte Forderung nah „Fesselung des Staates”. Daher der Grundsatz: Laissez faire: die Menshen mögen tun, was sie wollen! Aber auh der Grundsatz: Abbau des Staates: denn der Staat, wie alles Soziale, ist ein geshihtsbedmgtes Übel. Am Grunde aller individualistishen Gesellshaftsauffassung schlummert der Verzicht auf Gesellschaft, auf des Allgemeine, auf das Gemeinsame. „Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes menschliche Wesen nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte”, lehrt Humboldt.

Das zweite System — gegen das erste! — ist nun der Totalismus. Kennzeihnet den Individualismus eine Überspannung des einzelnen — auf Kosten der Gesellschaft, so den Totalismus eine Überspannung der gesellschaftlichen Bindungen — auf Kosten der einzelnen. An Stelle des „totalen” Menshen tritt der „totale” Staat, der den einzelnen wie ein Stück Brot verzehrt. Charakteristisch für alle totalistischen Systeme ist daher die Vergötzung des Gesellschaftlichen zuungunsten des einzelnen und die Abwertung des einzelnen zugunsten des Ganzen, der Gesellschaft, des Volkes, des Staates. Das totalistishe Gesellshafts- bild weist folgende Grundzüge auf:

Gesellschaft ist niht, wie der Individualismus behauptet, nur eine Summe der einzelnen. Gesellschaft ist mehr als diese.

Gesellschaft, behauptet der Individualismus, ist an sih nihts; sie hat an sih kein Sein, keine Wirklichkeit. Sein und Wirklichkeit hat nur der Einzelmensh. Demgegenüber behauptet der Totalismus die Erstwirklichkeit der Gesellschaft und jeder sozialen Ganzheit. Gesellschaft allein hat wahres Sein und ist deshalb auh oberster Wert. Hingegen sind die einzelnen und ihre Lebensäußerungen gleihsam Schattenspiele dieser gesellschaftlichen Urwirklih- keit, von ihr abgeleitete Zweitwirklih- keiten.

Nah individualistischer Auffassung steht Mensh-Sein vor Gesellschafts-Sein. Nah totalistischer Auffassung aber gilt: Glied- Sein oder Teil-Sein ist Mensh-Sein schlechthin! Ein Eigen-Sein, eine vita propria, ein Eigen-Leben des Menshen gibt es niht!

Wie durch den Individualismus die Gesellschaft pluralistisch zerfasert und aufgelöst wird — zugunsten des einzelnen, so ballt der Totalismus die Gesellschaft monistisch zu jenem Monstrum zusammen, das den einzelnen zershlägt und vernichtet. Wir erinnern uns des Satzes: Du bist nihts, dein Volk ist alles. Typish für jede totalistishe Gesellschaftstheorie ist die Vorstellung von der Gesellschaft als eines Ungeheuers, das die einzelnen mit Haut und Haaren verschluckt und ihnen kein Jota an Eigenwert und Eigenleben gönnt. Daraus folgt für jede totalistishe Gesellschaftspolitik zweierlei: die mehr oder wenig eingeshränkte Forderung nah „Fesselung des Individuums” und die mehr oder wenig eingeshränkte Forderung nah „Vergöttlichung des Staates”. An die Stelle der individualistishen Willkür der einzelnen tritt die totalistishe Gleichschaltung der Leiber und Seelen. Totalismus bedeutet Entpersönlichung und Vermassung der Menshen. Die letzte Vision aller totalitären Sozialprogramme ist: eine Riesenkaserne, eine Riesenfabrik, aber auh — ein Riesengefängnis zu bauen. Und der St at erscheint niht mehr, wie dem Individualismus, als ein geshihtsbedingtes Übel, als ein durh Not erzwungener Vertrag, als Werkzeug und Vereinsmashine im Dienst des einzelnen. Jetzt Ist der Staat oder sein Ersatz das Gute schlechthin! „Dort, wo der Staat aufhört, beginnt der Mensch” — rief der große Individualist Nietzsche. „Es ist der Gang Gottes auf Erden, daß der Staat ist” — rief der große Totalist Hegel.

Wie aller Individualismus in Anarchie endet, in einem Kampf aller gegen alle —, so endet aller Totalismus in Idolatrie, in einen Götzendienst, der Menschen verzehrt. Am Grund aller individualistischen Gesellschaftsauffassung schlummert der Verzicht auf Gesellschaft; am Grande aller totalisti- schen Gesellschaftsauffassung schlummert der Verzicht auf den Menschen. Aus diesem „Entweder-Oder”, aus „Individualismus- Totalismus”, führt heraus das dritte System, der Personalismus. Folgende Grundzüge zeichnen ihn aus:

Gesellschaft ist zunächst nicht, wie der Individualismus meint, eine Summe der einzelnen. Gesellschaft ist keine Addition. Gesellschaft ist aber auch nicht, wie der Totalismus meint, ein in sich bestehendes Wesen und Sein vor oder neben den einzelnen. Gesellschaft ist keine Hypostase! Gesellschaft ist vielmehr, lehrt der Personalismus, Ordnungs- und Wirkeinheit der Menschen.

Der einzelne ist nicht ohne Sozialbezug, wie der Individualismus annimmt. Der einzelne . ist kein vor- oder gegengesellschaftliches, er ist grundsätzlich ein gesellschaftliches Wesen, ein soziales Wesen. Der einzelne ist folglich kein willkürlicher Schöpfer und Macher der Gesellschaft, wie alle individualistischen Gesellschaftsvertragstheorien lehren. Der einzelne ist aber doch nicht ein soziales Wesen solcher Art, daß er sein ganzes Sein der Gesellschaft verdanken würde, wie der Totalismus kühn behauptet. Der einzelne ist folglich kein unbedingtes Geschöpf der Gesellschaft. Nach dem Personalismus gilt vielmehr: der einzelne ist als Persönlichkeit und Individuum beides, Schöpfer und Geschöpf der Gesellschaft.

Als Persönlichkeit ist der Mensch Schöpfer der Gesellschaft. Er steht über der Gesellschaft, die ihn nicht restlos erklärt und auch nicht erfüllt. Er fügt sich frei in die Gesellschaft durch innere Bejahung der sozialen Notwendigkeit. Er bildet auf Grund dieser Notwendigkeit selbst neue Gesellschaften und er behauptet sich auch gegen die Gesellschaft im Falle ihres Zugriffes gerade auf dieses freie, königliche Schöpfertum. Alle Märtyrer des Glaubens oder einer großen Überzeugung sind un- sterbliche Kronzeugen dafür, daß der Mensch sich selbst gehört und dann erst der Gesellschaft.

Ais Individuum ist jedoch der Mensch Geschöpf der Gesellschaft. Der Mensch ist abhängig von der Gesellschaft; er ist es auf Grund seiner Individualität, welche eine Verschiedenheit der Individuen, ihr „Ver- schieden-Geartetsein”, setzt und damit ihre gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit, ihr „Aufeinander-Angelegt-” und „Angewiesen- Sein”, bedingt. Durch seine Individualität bereichert der Mensch die Gesellschaft; sie behebt aber auch dadurch wieder seinen Mangel.

Typisch für jede personalistische Gesellschafttheorie ist die grundsätzliche Ausschaltung des individualistischen und tota- listisdhen Apriori, das den einzelnen vergöttlicht oder — vernichtet, die Gesellschaft auflöst oder — verdinglicht. Zwischen beiden Idolen steht und erfüllt das Lebensrecht des einzelnen wie das der Gesellschaft der personalistische Standpunkt:

Gesellschaft, ist kein absolutes, kein substantial Sein; die Gesellschaft ist ein zu den Menschen hinzukommendes Sein, ein relatives Sein. Gesellschaft ist Akzidenz. Substantiales Sein hat nur der einzelne. Er ist über und in der Gesellsdiaft und da und dort Substanz!

Der einzelne hat aber kein absolutes Sein für sich, dem nichts mehr hinzugefügt werden könnte; der einzelne hat aber auch kein ausschließliches Sein im andern, worin beide untergehen; vielmehr gilt nochmals: Mensch-Sein ist als Persönlichkeit Haupt- und Schöpfer-Sein, als Individuum Glied- und Geschöpf-Sein der Gesellschaft.

Daraus folgt für jede personalistische Gesellschaftspolitik zweierlei: die immer wieder ausgesprochene ‘ Forderung nach „Achtung vor der Persönlichkeit des Menschen” und die immer wieder ausgesprochene Forderung nach „Achtung vor der Autorität des Staates”.

An die Stelle der individualistischen Willkür des einzelnen — gegen die Gesellschaft, an die Stelle der totalistischen Gleichschaltung der Leiber und Seelen — gegen den einzelnen, tritt die doppelte Betrachtungsweise des Menschen in seinem Person- und Glied-Sein In der Gesellschaft. Freiheit und Bindung der einzelnen besitzen hier ihr gültiges Maß. Weder individualistische Staats- und Autoritätsverneinung noch totalistische Staats- und Autoritätsvergötzung entsprechen der Hoheit des Menschen. In beiden einäugigen Systemen wird sie vernichtet. Diktatorund Anarchist sinft gleicherweise Menschenfeinde. Nur das personalistische Prinzip spricht den ganzen Menschen an, wonach jeder einen status in statu innehat, einen Staat im Staate bildet, und ein Königreich in seinem Herzen trägt.

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