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Digital In Arbeit

Randbemerkungen eines engagierten Christen

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Die Verfasserin ist von Beruf Lehrerin, war Inspektor für Berufsbildende Höhere Schulen und gehörte jahrelang dem Bundesrat an.

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Die Verfasserin ist von Beruf Lehrerin, war Inspektor für Berufsbildende Höhere Schulen und gehörte jahrelang dem Bundesrat an.

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Immer von neuem erstaunt mich, daß in der Debatte um Grundwerte und Menschenbild, die in den letzten Jahren in Österreich ebenso wie in anderen westlichen Staaten aufgeflammt war, eine Frage nie gestellt wurde: die nach der Grundordnung zwischen Individuum und Gesellschaft. Wer steht über wem oder sind beide gleichwertig, wenn auch in ihren Kompetenzen unterschieden?

Diese Frage scheint mir für Christen von erstrangiger, personaler und praktischer Bedeutung. In ihrer Beantwortung unterscheiden sich - wenn auch meist unausgesprochen - Ideologien, Parteiprogramme und auch Religionen.

Wenn die Gesellschaft oder ihre Gruppierungen über dem Individuum stehen, haben sie das Recht und die Macht, über mich zu verfügen und können mir meine Lebensgestaltung und mein Tun vorschreiben, wie es z. B. in osteuropäischen Ländern geschieht. Kann ich dann dafür verantwortlich sein?

Wird das Individuum als höchster Wert gesehen, so wird es seine Möglichkeiten gebrauchen - gleichgültig, ob Mitmenschen unter einem Mißbrauch individueller Freiheit und Macht leiden müßten oder nicht.

Die dritte Möglichkeit der Beziehung, die Gleichwertigkeit von Person und Gesellschaft bei Verschiedenartigkeit ihrer Aufgaben füreinander, sagt letzten Endes das Christuswort „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.

Es legt mir die Eigenverantwortung dafür auf, was ich aus mir selbst mache (meine „Persönlichkeitsentfaltung” und Lebensgestaltung in der mir gegebenen Umwelt), wie auch die Pflicht, daß ich diese Kräfte auch für meine Mitmenschen zu verwenden habe.

Dann kann ich auch Beistand erwarten, wenn ich der Schwächere oder Notleidende bin.

Werden heute unsere Gesellschaft, unser Staat, sonstige Institutionen und Gruppen ihren Aufgaben für den einzelnen im Sinn der dritten Möglichkeit gerecht? Findet vor allem das Kind, der junge Mensch, in Wirklichkeit, nicht nur in Worten, jene Lebensbedingungen, die ihm die Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit ermöglichen?

Und tun wir selbst das unsere dafür? Verlangen wir nicht zu oft und zu viel vom Staat, weichen wir nicht der

Selbstverantwortung aus? Wir nehmen uns damit freilich auch die Chance, eigene Kräfte zu üben und zu entfalten. Durch Genießen und Habenwollen wächst keine Persönlichkeit!

Manche Staatsform und Regierung, manches System verführen heute die Menschen zu dieser Passivität. Denn es ist leichter, über solche Menschen Macht auszuüben, weil diese freiwillig immer bereit sind, sich in kollektive oder zentrali-stische Lebensformen ein- und ihnen unterzuordnen. In solchen Strukturen ist die Entwicklung zum Mißbrauch der Macht fast unvermeidlich.

Deshalb werden heute so oft Lebensverhältnisse und Wertordnungen geschaffen, die verhindern, daß der einzelne vom Lebensbeginn an zur echten Entfaltung seiner Kräfte und Fähigkeiten aus der Mitte seiner Persönlichkeit und zu einer je altersgemäßen Reifung gelangen kann.

Verunsicherte und schwache Menschen lassen sich eben leicht lenken. Der Zustrom zu autoritären Systemen, Sekten und Süchten aller Art zeigt, daß in der Ichmitte des Menschen das echte Manko ist.

Nicht nur politische Systeme führen diese Situation herbei. Manche tun es im Glauben, die Menschen seien nicht reif zu Entscheidungen, sie müßten beschützt und geführt werden. So aber bleiben sie unmündig.

Ich glaube, daß das „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder . . .” nur Gott gegenüber gilt und nicht gegenüber unseren Mitmenschen. Wie könnte sonst Christus auch unser Richter sein? Und wie können wir Christen die oben gezeigte Entwicklung vor allem den Kindern gegenüber verantworten?

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