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Gewalt der Idee — Idee der Gewalt

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Das 18. und 19, Jahrhundert und das erste Drittel des 20. haben der Weit eine janhaltende und immer allgemeiner sich auswirkende Relativierung zunächst des religiösen Erbes und danach auch jener philosophischen Werte gebracht, die es unternommen hatten, an seine Stelle zu treten. Vollends versuchte zuletzt der Marxismus — insbesondere jener Leninscher Ausprägung — jederlei Wertigkeit zu relativieren, was ihm schließlich gär nicht gut bekam. Lenin konnte sich noch auf die Glaubwürdigkeit stützen, die seinem aus dem Zusammenbruch des Zarenreiches im besonderen und aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen geborenen großen sozial-revolutionären Vorhaben eingeräumt wurde. Seine Nachfahren haben es schwerer. Sie stützen sich zwar auf eine organisatorisch, sozial und ökonomisch ziemlich kompakte und stabile Staatlichkeit, ideologisch jedoch auf eine Lehre, die die längste Zeit schon ein schweres Rückzugsgefecht führt: sich selbst von der Relativierung aller philosophischen Wertigkeit auszuschließen und zu schützen. Philosophisch ist der kommunistische Staat daher so stabil wie eine Pyramide, die auf ihrer Spitze steht. Sie ■— die Spitze —, die alle weitere Relativierung mit sämtlichen Mitteln realer Macht kontrolliert und der sie am ausschließlichsten zugute kommt, kann gleichwohl so einige Zeit auskommen, wenn auch nicht auf die Dauer.

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Das 18. und 19, Jahrhundert und das erste Drittel des 20. haben der Weit eine janhaltende und immer allgemeiner sich auswirkende Relativierung zunächst des religiösen Erbes und danach auch jener philosophischen Werte gebracht, die es unternommen hatten, an seine Stelle zu treten. Vollends versuchte zuletzt der Marxismus — insbesondere jener Leninscher Ausprägung — jederlei Wertigkeit zu relativieren, was ihm schließlich gär nicht gut bekam. Lenin konnte sich noch auf die Glaubwürdigkeit stützen, die seinem aus dem Zusammenbruch des Zarenreiches im besonderen und aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen geborenen großen sozial-revolutionären Vorhaben eingeräumt wurde. Seine Nachfahren haben es schwerer. Sie stützen sich zwar auf eine organisatorisch, sozial und ökonomisch ziemlich kompakte und stabile Staatlichkeit, ideologisch jedoch auf eine Lehre, die die längste Zeit schon ein schweres Rückzugsgefecht führt: sich selbst von der Relativierung aller philosophischen Wertigkeit auszuschließen und zu schützen. Philosophisch ist der kommunistische Staat daher so stabil wie eine Pyramide, die auf ihrer Spitze steht. Sie ■— die Spitze —, die alle weitere Relativierung mit sämtlichen Mitteln realer Macht kontrolliert und der sie am ausschließlichsten zugute kommt, kann gleichwohl so einige Zeit auskommen, wenn auch nicht auf die Dauer.

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Die übrige, nichtkbmmunistische Welt hat's leichter und schwerer. Ihr hat die Relativierung des religiösen und ethischen Erbes geholfen, aus der tiefen Gesellschaftskrise im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einigermaßen herauszukommen. Eine wissenschaftliche, technische und ökonomische Entwicklung ermöglichte eine Emanzipation des Proletariats, wie sie sich Marx nui zum Teil vorgestellt hatte: wohl, wie in seiner Annahme, vorwiegend in den entwickelten Industrieländern, jedoch keineswegs durch eine politische Verselbständigung des Proletariates, sondern durch dessen Einbeziehung in eine allerdings sozialökonomisch enorm verbreiterte und veränderte Gesellschaftsstruktur. Diese gesamte innere Entwicklung ermöglichte anderseits auch ein erstaunlich hohes Niveau der internationalen Zusammenarbeit insbesondere auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet zur Hintanhaltung solcher Krisen wie vor den beiden Weltkriegen — Krisen, die nicht wenig zum Ausbruch dieser Kriege beigetragen haben. An dieser erfreulichen Entwicklung konnten die wenigsten der unentwickelten Länder — trotz oft erreichter nationaler Selbständigkeit und Entkolonialisierung — teilhaben und teilnehmen. Es fehlen ihnen vorläufig einfach die historischen Voraussetzungen hierzu — Voraussetzungen, die nur zum Teil durch (nicht immer gut intentionierte) auswärtige Hilfe ersetzt werden können. Um so krasser muß daher die Divergenz im Lebensniveau zwischen den entwickelten und den unterent-wickelten Ländern empfunden werden, da die letzteren nunmehr quasi an die Stelle des in den ersteren emanzipierten Proletariates getreten sind. Die Verdichtung des internationalen Kommunikationswesens hat das Ihre dazu beigetrag3n, um die Divergenz zu verdeutlichen und zu verschärfen. Dies, und der eingangs behandelte Prozeß der Relativierung aller religiösen und philosophischen Wertigkeit auf dieser Welt.

Die Problematik, die diese Relativierung auch für den Marxismus selbst mit sich gebracht hat, wurde bereits angedeutet. Doch auch die nichtkommunistische Welt ist — trotz aller sonstigen Fortschritte — philosophisch und ethisch seither nicht weitergekommen. In dieser Beziehung leben wir in einem Trümmerfeld, das freilich viele Brocken wertvollen Gutes enthält, aus denen sich sowohl unsere hierin wenig beneidenswerte Jugend und die jungen unterentwickelten Völker nun das für sie Erforderliche heraussuchen sollen.Was die unentwickelten Völker anbetrifft, so befinden sie sich gleichsam als ideologische Erben des ehemaligen europäischen Proletariates in jenem Stadium der politischen Entwicklung, in welchem von einer Durchsetzung des bekannten Wahlspruchs „Von der Idee der Gewalt zur Gewalt der Idee“ schwer die Rede sein kann. Daß diesen Völkern auch die Scholastik der sowjetischen Staatslehre nicht mehr viel zu geben vermag, wird verstehen, wer weiß, daß es der sowjetischen Jugend selbst nicht anders geht. Es gibt hier im Vergleich zur westlichen Jugend eine merkwürdige Umkehrung: Es Sind nicht die Schlechtesten unter der sowjetischen Jugend, die angesichts der von ihnen am stärksten empfundenen Relativierung und Entwertung des dialektischen Materialismus in religiöses Sektierertum flüchten; so sucht die westliche Jugend vor allem ihre Zuflucht bei — ihrer Meinung nach — noch nicht kompromittierenden Lehren des prä-marxschen revolutionären oder utopischen Sozialismus, Anarchismus und Anarchosyndikalismus. Trotzki und der junge Marx mögen noch hingehen (beide Annahmen sind schreckliche Illusionen), der Maoismus wird nur von den Infantilsten akzeptiert.

Aus diesem Rückfall in prä-marx-sche Urständ' kommt uns, was wir heute an ^direkten Aktionen“, individuellem und kollektivem Terror und Banditismus in allen Teilen der Welt erleben, zu. Dies paart sich — der Vollständigkeit halber — mit utopisch-romantischen, teils proud-honisch, teils urchristlich inspirierten Experimenten von Lebensreform in den „Kommunen“, jenem seltsamen Gemisch von verrannten Idealisten, lichtscheuen Halbkriminellen, Scharlatanen und last, but not least, agents provocateurs — Doppelagenten, die gerne Asews und Schach mit den Schicksalen junger, heißblütiger Menschen spielen.

Die so permissiv gewordene Gesellschaft des nichtkommunistischen Teiles der Welt steht diesem seltsamen Rückfall in die Zeit vor 1910 seltsam ratlos und verschreckt gegenüber. Hier wirkt sich der Prozeß der Relativierung von Glauben und auch von politischem Rechtsbewußtsein manifest aus. Wo es sich um internationales Vorgehen zugunsten gemeinsamer wirtschaftlicher und finanzieller Interessen handelt, hat die zivilisierte Welt ein dichtes Netz

von Organisation und Kooperation geschaffen. Wo es um politische und ideologische Interessen geht, tritt die Zweigespaltenheit der Welt brutal und unverhüllt in Erscheinung. Jede politisch oder ideologisch, jedoch oft auch faktisch halbwüchsige Verschwörergruppe kann heute im Ausland vorerst noch „nur“ Flugzeugpassagiere, zu Hause jedoch bereits ganze Städte, Landstriche und Nachbarländer terrorisieren und dabei Weltpolitik spielen. Sie können dabei auf vielerlei Unterstützung hierin miteinander wetteifernder ausländischer Mächte rechnen. Die Angewiesenheit sonst recht pompöser auswärtiger Staatskanzleien auf solche Verbündete (an sich ein ermutigendes Zeichen) ist auf ihre Weise nicht geringer als die Unterstützung, die zwei sonst recht respektable Wiener Bezirksparteisekretariate in einem Fall neonazistischen und im anderen linksextremistischen Jugendlichen gewährten, wiewohl beide sichtlich konspirativen Dunst verbreiteten. Der „Westen“ mag sich seine Abwehrschwäche als Stärke anrechnen. Es ist immerhin ein Unterschied, ob jenem „Prozeß der Relativierung der Werte“ mit administrativen Mitteln nachgeholfen wurde und wird, oder nicht. Der Westen wäre nicht nichtkommunistisch und zur Reform seiner entsetzlichen Sünden befähigt geblieben, wenn er nicht die Fähigkeit besessen hätte, auch jene Relativierung zu relativieren und sich einigen Respekt vor den relativierten Werten, ja auf seine Weise oft auch diese selbst zu bewahren. Auch hatte er nunmehr 50 Jahre Zeit, um sich aus den Realisationen der anderen Seite die nahezu absolute Sicherheit zu verschaffen, daß weder soziale noch nationale Freiheit durch Gewalt generiert wird, weil, was nachher kommt, ihre Anwendung nicht wert ist, weil durch sie alles bereits im Keim zu eben solcher, meist aber noch größerer Unfreiheit prädestiniert wird, als die durch Gewalt abgeschaffte. Unser Problem ist, daß unseren jungen Leuten — ebenso wie den jungen Völkern — diese Erfahrung fehlt, daß es uns Älteren an dem guten Gewissen mangelt, dessen eine Generation immer bedarf, um der folgenden ihre Erfahrungen glaubwürdig zu vermitteln. Haben die Anderen Ursache zu einem besseren Gewissen? Unser Fehler besteht darin, ihnen überhaupt keines zuzutrauen, weil wir vergessen, daß ihre Pyramide auf der Spitze ruht.

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