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Legalität auf Urlaub

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Die Pariser ziehen in diesem Jahr mit gemischten Gefühlen aufs Land, in die Berge oder an die Strände der Bretagne und Cöte d'Azur. Ob sie durch das Explodieren der Bomben in der Nacht aufgeweckt wurden, unter einem der Streiks gelitten haben, einmal fiel die Metro aus, dann stauten sich die Abfalleimer tagelang vor den Häusern — sie alle empfinden die Unruhe, welche die Bevölkerung seit Monaten erfaßt. Mit Recht erinnerten politische Kommentatoren an die seinerzeitige Feststellung des humanistischen Sozialistenführers Leon Blum, der von einer Legalität sprach, die auf Urlaub geht. Der Chef der Volksfrontregierung von 1936 meinte damit, daß begrenzte Interessen nicht mehr organisch im Parlament und durch politische Parteien und ständige Vertretungen diskutiert werden. Die einzelnen Gruppen bean-apruchen dagegen das Recht, durch Gewaltaktionen ihre Interessen zuungunsten des allgemeinen Wohles durchzusetzen.

Die Antwort des Staates Wie antwortet nun der Staat auf die Herausforderung dieser Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, die ihre Ansprüche gemessen oder gewaltsam anmelden? Von der „neuen Gesellschaft“, Lieblingsbegriff des Ministerpräsidenten Chaban-Delmas, ist immer seltener die Rede. Die Regierung schickt ihre Ordnungshüter aus oder läßt die Gerichte Uberstunden machen, um den Zornigen zu zeigen, daß die Ordnung im Staate in keiner Weise gestört werden darf.

Die Regierung sucht darüber hinaus mit einem eigenen Gesetz verbotene Versammlungen und Aufmärsche zu hindern. Durch diesen Text sollen Teilnehmer solcher Kundgebungen für alle entstehenden Schäden haftbar gemacht werden. Die vorgesehene Maßnahme ist allerdings umstritten. Der Senat als Zweite Kammer hat den Text wesentlich entschärft. Die Gewerkschaften und Oppositionsparteien behaupten außerdem, zu befürchten, daß die Regierung das Versammlungs- und Streikrecht, seit 1789 garantiert, in Frage stellen und faschistische Neigungen fördern könnte.

Es rächt sich jetzt ein Versäumnis des Regimes.

Sein plebiszitärer Regierungsstil begründete in dem politisch engagierten Teil des Volks ein geistiges Vakuum. Mit Ausnahme einiger politischer Clubs verschwanden aus der öffentlichen Diskussion ideologischpolitische Fragen. Die Parteien zeigten wenig Leidenschaft, sich in ihrer Doktrin oder in der Struktur zu erneuern. Nach dem Abgang de Gaul-les im April des vergangenen Jahres setzte eine Art von Gewissenserforschung ein. Sein Nachfolger war der erste, um den Dialog zwischen Regierung, ständischen Vertretungen, politischen Parteden und den abseits stehenden Bürgern einzuleiten. Bezeichnenderweise wurde nun die interessierte Öffentlichkeit mit Programmen und Gesinnungserklärungen der Politiker und Parteien überfüttert, welche Lehren aus der Staatskrise von 1968 zogen und neben einer kühlen Technokrate neue Perspektiven in gesellschaftspolitischer Hinsicht eröffneten. Sogar die monolithische kommunistische Partei schien sich einen Augenblick zu besinnen und gestattete eine innere Diskussion um den Starphilosophen Garaudy. Sehr bald bekamen aber die Kommunisten Angst vor der eigenen Courage, bezogen wieder ihre einstige stalinistische Linie und schlössen den reformfreudigen Professor aus ihren Reihen aus. In der politischen Mitte riß Jean-Jacques Servan-Schreiber die radikalsozialistische Partei aus ihrem Winterschlaf und vermochte in wenigen Monaten sich selbst und den Radikalsozialisten ein modernes Image zu schaffen. Auch einer der klügsten Köpfe der Regierungsmehrheit, Edgar Faure, letzter Unterrichtsminister de Gaulles, fühlte sich verpflichtet, ein Programm zu entwickeln.

Selbst Staatschef Pompidou versäumt keine Gelegenheit, um eine Neudefinition von Staats- und Gesellschaftsordnung mit zukunftsweisendem Charakter der Nation vorzulegen. Der Chef der unabhängigen Republikaner und Kandidat für das höchste Staatsamt, Giscard d'Estaing, sucht jenseits der notwendigen Sanierungsmaßnahmen für Finanzen und Wirtschaft die gegenwärtigen Grenzen der politischen Aktivität.

Wie weit werden nun die in ihrer Existenz bedrohten Kleinkaufleute, die durch die Modernisierung und Konzentrierung zum Abwandern gezwungenen Jungbauern oder die aufgeregte Jugend, die an eine Revolution glaubt, von der Legalität des demokratischen Regimes und seiner Ideologien überzeugt werden? Die Ereignisse der letzten Monate, die Zuspitzung sozialer Gegensätze, beweisen, daß die Verschiebungen in der Tiefe der Gesellschaft auf keinen Fall ausgereift sind.

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