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Beweis politischer Lernfähigkeit

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Ein klarerer Trennstrich der ÖVP gegenüber der FPÖ wäre, so der Zweite Parlamentspräsident im Rückblick, „vielleicht wünschenswert" gewesen.

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Ein klarerer Trennstrich der ÖVP gegenüber der FPÖ wäre, so der Zweite Parlamentspräsident im Rückblick, „vielleicht wünschenswert" gewesen.

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dieFurche: Grenzt sich die ÖVP zu wenig gegen die Haider-FPÖ ab? Vor allem nach der Wahl des Dritten Nationalratspräsidenten haben Leute, die im Wahlkampfeher pro ÖVP auftraten, sehr kritische Töne angeschlagen.

Neisser: Mich trifft der Vorwurf der mangelnden Abgrenzung gegenüber der FPÖ nicht, im Gegenteil, ich habe immer meine Position sehr klar formuliert. Im Rückblick wäre es vielleicht wünschenswert gewesen, wenn man auch in der Gesamtdarstellung der Partei diesen Trennstrich etwas deutlicher gezogen hätte.

dieFurche: Einige ÖVP-Abgeordnete haben gemeint, hätten sie verschiedenes über die Person Brauneder gewußt, hätten sie anders votiert Ist es nicht ein Problem, daß sich auch bei Gesetzesvorlagen - der Abgeordnete Graffhat es einmal zugegeben —, die Abgeordneten vor Abstimmungen aufgrund der Materialflut kaum informieren können und eben das, was der Klubobmann vorschlägt, einfach mitvollziehen?

Neisser: Es ist richtig, man kann sich nicht über alles informieren. Das gilt auch für den Gesetzgebungsprozeß, nur sollte es dort am wenigsten vorkommen. Ebenso gilt es für Personalentscheidungen. Natürlich verläßt man sich in diesem Zusammenhang auf das, was man hört. Das ist die Verantwortung,. die jeder Abgeordnete persönlich wahrzunehmen hat. Wenn er Zweifel an Informationen hat, die er bekommt, so ist es seine Pflicht, selbst zu recherchieren. Das war hier infolge der Kürze der Zeit nicht möglich. Aber ich muß hier schon festhalten, daß die Diskussion im Klub nicht stattgefunden hat. Es gab keine Fragen zur Feststellung des Klubobmannes, daß gegen Professor Brauneder nichts vorliegt.

dieFurche: Nachträglich, in Kenntnis der Äußerungen von Brauneder über Dollfuß und Hitler, glauben Sie, daß diese Entscheidung ein Fehler war?

Neisser: Ich halte diese Äußerungen von Brauneder für unrichtig. Er hat sie offensichtlich getan in seiner Eigenschaft als Universitätsprofessor oder als FPÖ-Mitglied. Wenn er sie als Historiker getan hat, ist es für mich eine Fehlleistung.

dieFurche: Grundsätzlich stimmen Sie zu, daß in voller Kenntnis der vorhandenen Informationen manche Abstimmungen anders ausgehen würden?

Neisser: Ich gehe von der Annahme aus, daß sich Abgeordnete sicher anders verhalten hätten, wenn sie den Wissensstand von heute hätten.

dieFurche: Was sind in den Regierungsverhandlungen konkrete unverzichtbare Forderungen der ÖVP?

Neisser: Ein unverzichtbarer Grundsatz ist, daß die Sanierung, zumindest schwerpunktmäßig, ausgabcnseitig erfolgen muß. Das war unser Ziel, von dem kann man nicht abgehen.

dieFurche: Gibt es bezüglich der Ressortverteilung Unverzichtbares?

Neisser: Man soll die Ressortverteilung nicht zu einem Dogma machen. Sie wird natürlich bestimmt von politischen Interessen, so naiv bin ich wieder nicht, aber eine mögliche Große Koalition hat jetzt eine einmalige Chance, die Verteilung der Sachkompetenz nach Kriterien vorzunehmen, die eben in der Sache selbst liegen. Das ist bis jetzt immer zwar verkündet worden, aber in der Praxis nie geschehen. Insoferne wird die Aufgabenverteilung auch durch eine Neugestaltung der Ministerien wahrscheinlich ein besonderer Prüfstein dieser Großen Koalition sein.

dieFurche: Viele ÖVP-Funktionäre sollen für den Gang in die Opposition eintreten...

Neisser: Mein persönlicher Eindruck besteht darin, daß es für den Fall, daß wir nicht einigermaßen glaubhaft unsere Ziele in einer Großen Koalition umsetzen können, eine starke Strömung dafür gibt, den Gang in die Opposition anzutreten. Das bedeutet nicht, daß eine Große Koalition ausgeschlossen ist, wenn sie von den Inhalten her vertretbar ist, man wird aber diese Vereinbarung unseren Mitarbeitern in der Partei klarmachen, man wird sie überzeugen müssen.

dieFurche: Manche befürworten, daß jetzt hinter geschlossenen Türen verhandelt wird, andere sagen, das entspricht nicht der Transparenz in einer Demokratie. Wie sehen Sie das?

Neisser: Ich betrachte es für durchaus positiv, daß diese Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden sollen. Natürlich verlangt die Demokratie größtmögliche Transparenz über politische Inhalte - aber über politische Ergebnisse! Phasenweise schien es mir gerade selbstzerstörerisch, wie man durch eine permanente Offenlegung der Diskussionsprozesse eigentlich selbst dazu beigetragen hat, daß die Ergebnisse nicht befriedigend sein konnten. Es herrscht ein allgemeines, geradezu pathologisches Mitteilungsbedürfnis in unserer Politik, das einmal seine Grenzen finden muß. Ich sehe in der Tatsache, daß die derzeitigen Koalitionsverhandlungen eigentlich unter einem großen Maß von Verschwiegenheit stattfinden, einen Beweis für die Lernfähigkeit von Politikern.

dieFurche: Ist eine Art „koalitionsfreier Raum" im Parlament für Sie auch ein unverzichtbarer Bestandteil der ÖVP-Forderungew?

Neisser: Ich glaube, die Semantik des „koalitionsfreien Raumes" ist keine sehr .glückliche. Sie signalisiert einen institutionellen Freiheitsraum, wo sozusagen jeder machen kann, was er will. Das ist nicht das Anliegen. Das Anliegen liegt darin, in einer Großen Koalition, in der bestimmte Politikinhalte durch die Regierungspartner determiniert sind, dem Parlament als Entscheidungsträger eine gewisse Autonomie und Flexibilität zu geben. Wichtig ist, daß die beiden Regierungspartner den Willen und die Absicht haben, in bestimmten Fragen diese Öffnung des Parlaments zur Kenntnis zu nehmen und auch gegenüber ihren Fraktionen zuzulassen. Wenn es da im Jahr zwei, drei Beispiele gibt für diese stärkere Autonomie des Parlaments, ist das ein ganz gut sichtbarer Beweis für ein neues Rollenverständnis des Parlaments.

dieFurche: Wünschen Sie sich, das österreichische Wahlrecht wäre mehrheitsfördernder, dann würden ja manche jetzige Probleme nicht auftreten?

Neisser: Jetzt laufe ich Gefahr, etwas nostalgisch zu werden. Ich habe ja Mitte der 70er Jahre eine Diskussion mitinitiert, mit dem Ziel, ein mehr-heitsförderndes Wahlrecht in Österreich einzuführen. Ich bin erstaunt, daß ich in letzter Zeit einige Meinungen gelesen habe, die ganz offen eine Diskussion über ein MehrheitsWahlrecht verlangt haben. Ich halte die Diskussion für nützlich und wichtig, wobei der Zielpunkt nicht ein Mehrheitswahlrecht in reiner Form sein müßte, aber zumindest ein mehr-heitsförderndes Wahlrecht. Ein bißchen problematisch ist es schon, durch ein Mehrheitswahlrecht eine Parteienlandschaft zu beeinflussen, die jetzt aus viel mehr Parteien besteht als früher, denn dieses Wahlrecht gibt natürlich kleinen Parteien eine geringere Chance. Ich glaube, daß die Vorteile eines mehrheitsfördernden Wahlrechtes darin lägen, daß Regierungsbildungen erleichtert werden, korrespondierend dazu müßte man aber die Rolle der Opposition auf dem Boden des Parlaments verstärken. Das bedeutet aber letztlich eine erhebliche Systemveränderung

dieFurche: Sollten die Verhandlungen scheitern - kann sich eine SPÖ-Minderheitsregierung halten, oder sind dann Neuwahlen unausbleiblich?

Neisser: Theoretisch ist es möglich, daß sich eine SPÖ-Minderheitsregie-rung hält, sie kann das sicher nur tun, wenn sie die Mehrheit in grundsätzlichen Fragen hat. Für mich ist es im Augenblick allerdings nicht vorstellbar, daß man eine Minderheitsregierung auch dadurch akzeptiert, daß man ihr sozusagen beim Budget der nächsten beiden Jahre auf die Beine hilft, aber vielleicht denkt man eines Tages auch darüber anders.

Das Gespräch führte

Heiner Boberski.

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