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Lehrbuch der Sozialpolitik

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LEHRBUCH DER ALLGEMEINEN SOZIALPOLITIK. Von Anton Burkhard t. Duncker: Humblot, Berlin 1966. 504 Selten. S 492.90.

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LEHRBUCH DER ALLGEMEINEN SOZIALPOLITIK. Von Anton Burkhard t. Duncker: Humblot, Berlin 1966. 504 Selten. S 492.90.

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Anton Burghardt, Ordinarius für Sozialpolitik und Betrdelbssoziologie an der Universität Graz, einer der profiliertesten Persönlichkeiten des österreichischen politischen Denkens, legt ein „Lehrbuch der Allgemeinen Sozialpolitik“ vor. Bereits das Wort Lehrbücher fällt auf; Professoren, die sich der Mühe unterziehen, ein Lehrbuch zu schreiben, also etwas „ad usum scholarum“ zu publizieren, sind nicht allzu häufig anzutreffen. Lehrbuch zu schreiben erfordert meist mehr Kenntnis und vor allem systematische Kraft, als dies bei einer noch so gelehrten Fachpublikation der Fall ist. Damit ist auch der zweite Zweck dieses Buches umrissen: es ist ein großangelegter Versuch, die Vielfalt der Sozialpolitik systematisch darzulegen. Der Untertitel des vorliegenden Werkes bringt gleichzeitig auch die Haupteinteilung: Bedingungen — Geschichte — Vollzug — Effekte. Da es ein Lehrbuch ist, liegt der Schwerpunkt beim Vollzug.

Sozialpolitik wird heute nicht nur ein immer größerer und wichtigerer Teil des gesamten politischen Handelns und Denkens, sondern sie ist auch ein weitgehend selbständiger Wissenszweig geworden, wie etwa die Finanzwissenschaft oder die Betriebswirtschaftslehre, die ähnliche Ausgliederungsprodukte der früher alles umfassenden Nationalökonomie sind. Aus diesem Grund mußte sich der Verfasser mit dem auseinandersetzen, was man unter theoretischer Sozialpolitik zu verstehen hat. Burghardt geht zunächst den historischen Wurzeln dieses für die Gegenwart wichtigen Geschehens nach und verfolgt deren Ausgestaltung bis heute. Da aber „die Sozialpolitik ihre Maßnahmen nicht allein auf Grund evidenter Not aktivierte“, sondern vielfach auf Grund bestimmender Theorien, sind sie für den Vollzug in der Gegenwart und Zukunft wichtiger denn je. Mit einer solchen Grundlage versehen, legt der Autor einen Katalog der angewandten Sozialpolitik vor.

Burghardt beschränkt sich auf die Darstellung der unmittelbaren und der interventionistischen Sozialpolitik; ihre betriebliche und übernationale Seite kann er nur streifen. Unter interventionistischer Sozialpolitik werden alle jene Maßnahmen verstanden, die von gesellschaftlicher Seite beziehungsweise „durch eine relativ unabhängige Sozialbürokratie“ durchgeführt werden. Die Darstellung dieser Maßnahmen, ihr Umfang und ihre Auswirkungen bilden den umfangreichsten Teil des vorgelegten Iflh'ibu'f*>es., Neben einer relativ knappen Darstellung dp-Bezugsgruppen (Arbeitnehmer, Familien und dergleichen) werden sorgfältig und ausführlich die Träger der Sozialpolitik untersucht. Als erstes wird die Rolle des Staates selbst überprüft, der aber mehr in den mittelbaren Bereichen (Arbeitsmarkt-, Vollbeschäftigungs-, Woh-nungs- und andere Politik) sowie durch seine Sondergerichte wirkt. Eingehender werden die öffentlichrechtlichen Einrichtungen, die für diesen Zweck vorhanden sind, behandelt. Einer tieferen Betrachtung werden die Berufsverbände gewürdigt, denen Burghardt in der modernen Sozialpolitik eine tragende Funktion zubilligt; besonders ausführlich legt Burghardt den historischen Auftrag und die Funktion der Gewerkschaften dar, während die Arbeitgeberseite mit knapp vier Seiten auskommen muß. Mag auch die historische Rolle dieser Interessenorganisation in Beziehung auf eine Ordnung der Arbeitsverhältnisse eher problematisch gewesen sein, so ist ihr Einfluß auf das sozialpolitische Geschehen der Gegenwart außerordentlich stark, so daß eine stärkere Berücksichtigung berechtigt gewesen wäre.

Ausgezeichnet und trotz der relativen Kürze (21 Seiten) sind die Arbeitskonflikte und ihre Probleme behandelt. Vor allem muß hier auf die sorgfältige Systematik hingewiesen werden, in der alles, was über dieses Kapitel zu sagen ist, aufgeführt wird und die von den „Streikmotivationen“ bis zu den Spezialfragen „Beamtenstreik“ und „Boykott“ reichen.

In einem weiteren Kapitel geht der Verfasser auf das Arbeitsrecht als Normierung der Arbeitsverhältnisse ein. Die grundlegenden Bemerkungen dazu sind nicht juridischer Natur; das ist insofern kein Nachteil, da dadurch eine Einengung auf einen Aspekt vermieden wird. Gerade in diesem Kapitel sowie in denen über den Arbeitsvertrag, über die Sozialversicherung und über die Arbeitslosenversorgung wird deutlich, daß die Theorie der Sozialpolitik als Ausgangspunkt einen ganz anderen Standpunkt vermitteln kann als eine nur vom Arbeitsrecht oder von der Praxis der Sozialnormen ausgehende Darlegung. Vielleicht kann ein Leser des Werkes darüber enttäuscht sein, daß, außer im historischen Teil, von Sozialphilosophie kaum die Rede ist. Es ist meines Erachtens nach vom Verfasser bewußt vermieden worden, geistige und politische Wertvorstellungen darzustellen; es sollte ein Lehrbuch der Sozialpolitik (im wesentlichen der angewandten Sozialpolitik) sein; eine Sozialphilosophie müßte ein selbständiges Werk sein. Daß der Verfasser auch diese Materie beherrscht, ist bekannt und er hat sich darin ausgewiesen.

Eindeutiger wird Burghardt in den eingestreuten sogenannten Exkursen; gleichsam Unterbrechungen in dem Lauf der hier abgedruckten Vorlesungen, in denen der vortragende Professor seine Hörer mit seiner Meinung, aber auch mit den Ergebnissen von Forschungen bekannt macht, die in seine systematischen Ausführungen nicht hineinpassen. So geht der Exkurs „Das Phänomen der Armut“ bis an die Grenzen einer harten Sozialkritik, während der über „Selbsthilfe“ fast ein Programm ist. Schade, daß diese Exkurse nicht im Inhaltsverzeichnis genannt sind. Nicht so deutlich tritt die Auffassung Burghardts im Teil über die sozialökonomischen Effekte hervor; er berichtet objektiv, sachlich, gleichsam von einer höheren Warte. Dabei kommen sehr interessante Bereiche zur Sprache, manches Neuland wird zumindest gestreift, so das über „Sozialneurosen“, über die „Wandlung der Klassenstruktur“ u. a. m. Der Verfasser stellt sachlich fest, daß es zu einer Änderung der Einkommenspyramide gekommen ist, er fragt, ob der Klassenkampf überhaupt noch in der alten Terminologie vorbanden ist, und kommt bei der Auswahl der Vermögensbildung von Arbeitnehmern dazu, daß dies „einen positiven Einfluß auf den ökonomischen Unterbau“ habe. Man könnte daraus schließen, daß Burghardt eine Umverteilung des Vermögens im allgemeinen begrüßt. Dies ist aber absolut nicht der Fall: es geht ihm lediglich um die Umverteilung des zuwachsenden Vermögens.

Was hier vermißt werden kann, ist eine Auseinandersetzung von Wirtschafts- und Sozialpolitik; es klingt nur an. An sich wäre bei einer Untersuchung, die von der Theorie eines bestimmten politischen Handelns ausgeht, die Frage des Verhältnisses zu der Wirtschaft einer grundlegenden Erörterung wert gewesen.

Jeder Rezensent beurteilt ein Werk auf Grund seiner Fachkenntnisse. Ein Jurist wird wahrscheinlich das zu geringe Eingehen auf das Arbeitsrecht vermissen, ein Historiker die nicht ganz geglückte Sicht der historischen Hintergründe. Daher stellt der Rezensent überrascht fest, daß die Kategorien des historischen Materialismus sich als Kapitelüberschriften wiederfinden; das Kapitel über feudale Arbeitsgesell-schaft ist ohne Zuhilfenahme der jüngeren wirtschaftsgeschichtlichen Literatur geschrieben, so daß der in diesem Buch benutzte Begriff der Leibeigenschaft antiquiert ist.

Eine Überarbeitung dieser Seiten müßte für eine Neuauflage unbedingt durchgeführt werden.

Alles in allem: es ist erstens ein hervorragendes Lehrbuch für alle Studenten der Sozial-, Wirtschaftsund Rechtswissenschaft, es ist zweitens eine erste großangelegte Systematik der angewandten Sozialpolitik und es ist drittens trotz seines Willens zur objektiven Durchleuchtung des gesamten Gebietes ein wissenschaftliches Bekenntnis zu einer geistigen und menschlichen Wertung des gesellschaftlichen Geschehens von heute.

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