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Leseunlust durch Politikfrust

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Zeitunglesen verliert an Attraktivität, nicht nur in Österreich, sondern weltweit. In 23 von 40 Ländern, deren Daten die FIEJ (Federation Internationale des Editeurs de Journaux et Publications) erhoben hat, sind die Auflagen zurückgegangen, teilweise sogar dramatisch gefallen, so zum Beispiel in Großbritannien um 16,41 Prozent, in Griechenland um 15,89 Prozent, in Finnland um 13,66 Prozent. Österreich liegt mit einem Bückgang von 6,5 Prozent im Mittelfeld.

Mit diesen Zahlen verbunden ist die Feststellung vieler Pädagogen, daß Textverständnis, Sprachkompetenz und Schülerinteressen kontinuierlich abnehmen und die soziale Interakti-onsfähigkeit der jungen Menschen leidet. Besorgt wird die Frage gestellt, wie depn Schüler Übersicht, Urteilsund Handlungsvermögen erwerben werden, wenn sie nicht lernen, sich der Informationsquellen richtig zu bedienen und regelmäßig die Zeitung zu lesen. Pessimisten beweinen bereits das Sterben des mündigen Staatsbürgers und erklären das Fernsehen zur alleinigen Todesursache.

Natürlich ist es bequemer, den Fernsehknopf zu drücken, als mühsam Seite für Seite zu buchstabieren, natürlich spricht das Bild am Fernsehschirm wesentlich mehr die emotionellen Bedürfnisse des Betrachters an als dies die Zeitung vermag. Dennoch scheint es zu undifferenziert, dem Fernsehen die alleinige Schuld an der wachsenden Leseunlust zu geben. In Wirklichkeit sind die Zusammenhänge - wie so oft - wesentlich komplizierter.

Ein Aspekt, dem meines Erachtens bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde, ist der Zusammenhang von Leseverweigerung und steigender Frustration und Politikverdrossenheit. Immer mehr Menschen machen die Erfahrung, daß sich durch politische Entscheidungen nicht wirklich etwas für ihr persönliches Leben ändert. Der einzelne Staatsbürger aber, der längst das Vertrauen in die politischen Kräfte seines Landes verloren hat, der resigniert die Hände in den Schoß legt in der Überzeugung, ohnedies nichts ändern zu können, ist immer weniger gewillt, sich in die Zeitung zu vertiefen, die täglich neu seine eigene Ohnmacht zutage treten läßt. Von Zynismus triefende Zeitungsartikel, sogenannte kritische Bestandsaufnahmen, bissige Kommentare wie auch Beiträge selbsternannter Aufdeckungsjournalisten verstärken den bitteren Geschmack der eigenen Hilflosigkeit. Warum denn überhaupt noch Zeitunglesen? Warum sich täglich neu und noch dazu freiwillig mit dieser Trostlosigkeit konfrontieren?

Besonders betroffen sind junge Menschen; ihr Glaube an die Zukunft wird von pessimistischen Kommentatoren des politischen Geschehens sehr schnell von den schwindelnden Höhen des Optimismus in die Abgründe der Resignation geholt. Oder glaubt wirklich jemand, daß das politische Possenspiel in Österreich und das in Form einer Zeitung erscheinende tägliche Programmheft zu den einzelnen Aufführungen der politischen Haupt- und Nebendarsteller dieser Republik Sympathien weckt, zum Mitgestalten anregt, zu Optimismus verleitet? Resigniert wendet sich der Jugendliche ab. Politikverdrossenheit und Leseverweigerung sind erste Symptome eines Fluchtverhaltens.

Der Zusammenhang von Leseverweigerung und Politikverdrossenheit läßt sich im umgekehrten Sinn auch im historischen Rückblick aufzeigen. Es ist nämlich alles andere als ein Zufall, daß die Zeitungen genau zu der Zeit den Markt eroberten, als die öffentliche Meinung zum ersten Mal mächtig wurde und das politische Geschehen bestimmte. Auch die Entwicklungen in Osteuropa zeigen dies deutlich. Ebenso unbestritten ist, daß das Lesen von Zeitungen dann zur zwingenden Notwendigkeit wird, wenn sich der Leser in die berichteten Ereignisse mithineingenommen fühlt, wenn er teilhat am öffentlichen Geschehen, wenn er dieses mitgestaltet, mitprägt.

Um Zeitunglesen wieder attraktiver zu machen, wird es notwendig sein, vor allem junge Menschen mit der Technik des Lesens vertrauter zu machen. Der Verein „Zeitung in der Schule”0 hat sich dieser Aufgabe gestellt.

Doch auch wenn jungen Menschen der Zugang zur Zeitung aufgrund einer umfassenden Medienerziehung erleichtert wird, werden sie sich aus den oben aufgezeigten Gründen noch lange nicht lustvoll dem Zeitunglesen hingeben. Redaktionen werden sich daher kritisch fragen müssen, wie sie ihre Berichterstattung in Zukunft anlegen, um der Politikverdrossenheit und dem Gefühl der Ohnmacht mit daraus resultierendem Fluchtverhalten Einhalt zu gebieten. Konkret geht es dabei um die Fragen, wie der Zynismus in der Berichterstatung zu stoppen sei, wie Menschen eingeladen werden könnten, am öffentlichen Lebern wieder aktiver teilzunehmen, wie Anliegen thematisiert werden könnten, damit sich die Leser in ihren Bedürfnissen ernstgenommen fühlen.

In den USA wird seit einigen Jahren, ausgehend von der Überzeugung, daß aktive Bürger treue Leser sind, der „public journalism” forciert. Journalisten verstehen sich dabei nicht länger als Berichterstatter und Beobachter, sondern unterstützen Bürger in ihren Bemühungen um die Lösung der Probleme, die sie wirklich betreffen. Ohne Anwälte für bestimmte Strömungen zu werden, ohne sich von bestimmten Interessengruppen vor den Karren spannen zu lassen, versuchen sie, das öffentliche Interesse für die Bedürfnisse der Menschen wachzuhalten, schaffen sie Foren, um die Aktivität der Bürger zu fördern. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen den Glauben daran verloren haben, daß ihre persönlichen Anliegen in einem größeren Kontext ernstgenommen werden, bietet sich für die Zeitungen eine enorme Chance. Wenn sie ihren Lesern mehr bieten als bloße Information, wenn es ihnen gelingt, ihre Leser wieder zu aktiven Staatsbürgern zu machen, dann werden sie zur unverzichtbaren Informationsquelle des einzelnen und zu einem elementaren Gut der Demokratie.

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