"Integration in Schweden nicht gescheitert"

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Nach Schwedens Parlamentswahl ist vor den Koalitionsverhandlungen. Die schwedische Politologin Jenny Madestam über Gründe für den Rechtsruck, die wahrscheinlichste neue Regierung, sozialdemokratische Dominanz und düstere Bilder von schwedischen Vororten.

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Nach Schwedens Parlamentswahl ist vor den Koalitionsverhandlungen. Die schwedische Politologin Jenny Madestam über Gründe für den Rechtsruck, die wahrscheinlichste neue Regierung, sozialdemokratische Dominanz und düstere Bilder von schwedischen Vororten.

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Der Rechtsruck fiel bei der schwedischen Parlamentswahl am Sonntag schwächer aus als erwartet. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten waren dennoch der große Wahlsieger. Die für das Land so prägenden Sozialdemokraten blieben zwar stimmstärkste Partei, fuhren aber ihr schlechtestes Ergebnis seit rund 100 Jahren ein. Die Konservativen erlitten indes die größten Verluste aller Fraktionen.

Die Furche: Frau Madestam, was steckt hinter den Verschiebungen bei der Parlamentswahl?

Jenny Madestam: Die Sozialdemokraten haben die schwedische Politik über mehr als ein Jahrhundert dominiert und ringen darum, ihre Positionen und Werte auf die heutige Gesellschaft zu übertragen. Seit 2015 steht aber das Migrationsthema im Fokus. Die Sozialdemokratie hat, wie alle anderen Parteien, die Weichen auf eine deutlich restriktivere Migrationspolitik gestellt -auch, um nicht zu viele Wähler an die Schwedendemokraten zu verlieren. Viele rote Kernwähler waren über diesen Paradigmenwechsel aber enttäuscht und haben ihre Stimme deshalb der sozialistischen Linkspartei gegeben, die am Sonntag stark zulegte. Die bürgerlich-konservativen Moderaten waren früher gespalten in der Frage, ob die Schwedendemokraten ein Verhandlungspartner sein sollen oder nicht. Das aktuelle Problem der Moderaten ist, dass nicht geklärt ist, ob sie eher für einen konservativen oder liberalen Kurs stehen - zwei Achsen, die die Partei stets vereint hat. Deshalb verlor sie konservativere Wähler an die Schwedendemokraten und liberalere an die Zentrumspartei.

Die Furche: Schweden fungierte als sozialdemokratisches Vorzeigeland schlechthin. Sind die roten Verluste hausgemacht, oder einfach der nächste Schauplatz einer Krise der Sozialdemokratie, die ganz Europa erfasst?

Madestam: Natürlich sind die Verluste Teil eines europäischen Trends. Die Sozialdemokratie hat in unseren postmodernen, postindustriellen, individualistischen Gesellschaften Schwierigkeiten, ihre Identität und ihren Platz zu definieren. Eine spezielle Hypothek für die schwedischen Sozialdemokraten ist dagegen ihr ungebrochenes Selbstverständnis als dominierende Partei im Land. Denn man war gewohnt, meistens die Alleinregierung zu stellen. In der ungewohnten Oppositionsrolle von 2006 bis 2014 hat die Partei verabsäumt, ihre Anliegen und Antworten für die schwedische Gesellschaft neu auszuformulieren.

Die Furche: Der Erfolg der Schwedendemokraten hängt eng mit den großen Migrationsbewegungen von 2015 zusammen, als Schweden relativ zur Einwohnerzahl die meisten Flüchtlinge aufnahm. Wie gut oder schlecht hat die Integration seither funktioniert?

Madestam: Im Ausland ist das Bild entstanden, die Integration sei gescheitert und Schweden in einer großen Krise. Das düstere Bild, das gezeichnet wurde, trifft aber nicht zu. Es gibt definitiv Probleme in Vorort-Siedlungen. Allerdings ist Schweden ein flächenmäßig sehr großes und reiches Land. Das System funktioniert nach wie vor gut. Zu Beginn der großen Migrationsbewegungen nahm Schweden rund 130.000 Menschen auf. Seit dem Wechsel zu einer restriktiven Einwanderungspolitik, ist Migration aber in der Realität kein großes Thema mehr. Tatsächlich geht es jetzt vor allem darum, dass zugezogene Menschen schwedisch lernen, in Ausbildungen und Arbeitsverhältnisse kommen. Das ist zentral, denn andernfalls entstehen der Öffentlichkeit hohe Kosten. Sinnvollerweise sollte es im öffentlichen Diskurs heute um Integration statt Migration gehen. Im Wahlkampf war es allerdings umgekehrt.

Die Furche: Rund ein Fünftel der Einwohner Schwedens ist im Ausland geboren, in "Problemvierteln" wie Rinkeby in Stockholm beträgt der Migrantenanteil bis zu 90 Prozent. Berichte über diese Vororte, auf die sich jüngst sogar US-Präsident Trump bezog, sind stark übertrieben, Probleme bis hin zu tödlichen Bandenkriegen allerdings unbestritten. Wie sehen Sie die Lage in den Vorstädten?

Madestam: Es gibt natürlich isolierte Communities und Formen von Parallelgesellschaften. Es gibt Menschen, die seit vielen Jahren hier leben, aber kein Wort Schwedisch sprechen und nicht an der schwedischen Gesellschaft teilnehmen. Der Großteil der Menschen möchte das aber und dafür ist es zentral, die Sprache zu beherrschen. Sprachkurse wurden zuletzt intensiviert, um diesen Prozess zu beschleunigen. Dass sich besonders düster verzerrte Bilder dieser Viertel in der Öffentlichkeit breit machen, liegt natürlich im Interesse der Schwedendemokraten, denn sie profitieren bei den Wahlen davon. Die Frage ist, warum auch die anderen Parteien diese Erzählung bedienen. Die schwedischen Wirtschaftsdaten sind sehr gut, die Arbeitslosenrate ist niedrig, das Land aktuell in hervorragender Verfassung. Das böte auch die Möglichkeit, mit einer positiven Erzählung zu punkten.

Die Furche: Der Wahlsonntag brachte eine Pattstellung zwischen dem Mitte-Rechts-und Linksblock im Parlament. Beide könnten eine Minderheitsregierung anstreben - große Koalitionen sind in Schweden unüblich. Was halten Sie für die wahrscheinlichste Variante einer Regierungsbildung?

Madestam: Tatsächlich weiß das derzeit niemand. Was sich aber sagen lässt: Soll die neue schwedische Regierung länger als ein paar Monate halten, wird es breitere Koalitionen brauchen als bisher. Also vermutlich eine Variante, an der sowohl die Sozialdemokraten, als auch Teile der liberalen Kräfte in der Mitte des politischen Spektrums beteiligt sind. Wie genau das aussehen könnte, ist Spekulation. Denn der Mitte-Rechts-Block aus Moderaten, Liberalen, Zentrumspartei und Christdemokraten möchte seine Allianz nicht schwächen. Eine Veränderung der schwedischen Tradition, in der sich zwei Blöcke im Parlament gegenüberstehen, dürfte für eine stabile Regierung aber nötig sein. Schweden steht wohl eine schrittweise Erneuerung seiner politischen Gepflogenheiten bevor.

Die Furche: Bisher herrschte in Schwedens Politik Konsens, die Schwedendemokraten nicht als Verhandlungspartner zu sehen. Vor der Wahl schloss der Chef der konservativen Moderaten eine Rechtskoalition mit der Partei allerdings nicht dezidiert aus. Halten Sie diese Variante für denkbar? Madestam: Ich glaube, dass das eher ein strategischer Zug war und halte eine Koalitionsbeteiligung der Schwedendemokraten für sehr unwahrscheinlich. Sollten Moderate oder Christdemokraten tatsächlich mit ihnen verhandeln, würde das wohl das Ende ihrer Kooperation mit anderen Parteien bedeuten, die diese Entscheidung nicht goutieren würden. Eine Besonderheit der schwedischen Politik ist, dass die sozialdemokratische Dominanz alle Parteien wie auch Schweden als Gesellschaft stark geprägt hat. Werte wie Solidarität und Gleichberechtigung sind hier fest verankert. Aufgrund dieser Tradition wäre eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten ein Tabubruch.

Die Furche: Ausländische Medien spekulierten, Russland könnte mittels Cyberattacken im schwedischen Wahlkampf auf ähnliche Weise eingegriffen haben, wie einst in den USA. In Schweden nahm man das Thema allerdings nicht allzu ernst.

Madestam: Es gibt keine stichhaltigen Hinweise darauf. Von den Experten, mit denen ich gesprochen habe, verstand niemand, warum diese Spekulationen überhaupt aufkamen. Es dürfte sich eher um organisierte Gerüchte handeln. Was es während des Wahlkampfs gab, war gezieltes Negative Campaigning zwischen den Parteien. Und es kam auf dieser Ebene auch zu Server-Attacken. Das ist aber eine andere Geschichte.

Die Furche: Das politische Modell Schwedens ist eng mit dem Sozialstaat verknüpft. Wie viel ist nach Reformen in den 1990ern heute noch vom berühmten schwedischen Wohlfahrtsstaat der 70er oder 80er übrig? Und wie identitätsstiftend ist er heute noch für die schwedische Gesellschaft?

Madestam: Er ist nach wie vor ein zentraler Teil schwedischer Identität. Und alle Parteien möchten ihn beibehalten. Die Schwedendemokraten ohnehin -und auch die Konservativen, trotz von ihnen angestrebter Steuersenkungen. Auch nach den Reformen ist der Wohlfahrtsstaat noch stark verankert. Der Hauptunterschied zu früheren Jahrzehnten ist, dass es heute mehr private Alternativen gibt. Gesundheits-und Schulsystem wurden etwa dereguliert und Bürger können sich häufig zwischen staatlichen und privaten Varianten entscheiden.

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