Marxismus und Atheismus oder: Wenn das Lamm neben dem Löwen liegt
Über die illegale religiöse Dynamik des Marxismus und seiner unwissenschaftlichen Faszination.
Über die illegale religiöse Dynamik des Marxismus und seiner unwissenschaftlichen Faszination.
Wer der naiven Meinung ist, das ideologische Gesamtgebäude des Marxismus (-Leninismus) stelle eine so monolithische Struktur dar, daß ein Baustein nicht ohne den anderen bestehen kann, nimmt ein ideologisches Gebäude viel ernster als man es nehmen darf. Hierzu neigen natürlich alle, die durch eine scholastische theologische Schule gingen. So kommen dann katholische und marxistische Scholastiker zusammen, um sich gegenseitig ihre Wichtigkeit zu bestätigen. Tatsächlich haben beide eine ähnliche Denkstruktur.
Zauberei und Brüderlichkeit
Ein Kommunist, der bereit war, sich todesmutig gegen die Nationalsozialisten zu stellen, glaubte nicht mit der gleichen Intensität an die Notwendigkeit einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft, wie an irgendwelche dialektische Zaubereien im Bereich der Biologie oder Physik. Ebenso glaubte ein Märtyrer des Christentums, wie Franz Jägerstätter, ganz anders an die Notwendigkeit, christliche Brüderlichkeit gegen kriegs-verbrecherische Antimenschlichkeit bis zum Tod zu bezeugen, als an die Richtigkeit einzelner Soziallehren von Quadragesimo anno.
Denn hinter und unter Gedankengebäuden, die noch dazu aus oft sehr verschiedenen, durchaus voneinander zu trennenden Teilkomplexen bestehen, stecken oft echte und tiefe menschliche Anliegen, gleichzeitig mit minderwertigen Affekten. Mir konnte bisher weder ein kommunistischer Dogmatiker noch ein Scholastiker beweisen, daß mit dem moralischen Engagement für eine klassenlose Gesellschaft notwendig die Idee einer unendlichen und ewigen Welt verknüpft sein müsse und umgekehrt, daß sich die Idee einer klassenlosen Gesellschaft mit der eines persönlichen Gottes nicht vereinen ließe. Die Dinge gehören weder logisch noch empirisch zusammen. Empirisch zeigt etwa das Gedankengebäude Thomas Morus', daß sich ein christlich-kommunistisches System durchaus denken ließe. In gewisser Weise war sogar der Jesuitenstaat in Paraguay ein entsprechendes Experiment.
Natürlich gibt es Marxisten verschiedenster Prägung. Für manche ist der Atheismus etwas Essentielles, für andere nicht. Was jedoch ihr Ziel, die Umgestaltung der Gesellschaft hinsichtlich ihrer ökonomischen Basis, betrifft, sehen alle dies als etwas Entscheidendes an.
"Geist der Todesverachtung"
Die politische Durchschlagskraft des Marxismus beruht gerade auf seinem unwissenschaftlichen — nämlich seinem mythisch-religiösen Element. Die Faszination verlieh ihm also seine gleichsam illegale religiöse Dynamik, sein absoluter Glaube an den Sieg der Gerechtigkeit, an ein künftiges Reich der Gleichheit und Freiheit, in dem das „Lamm neben dem Löwen“ liegt.Gerade die unwissenschaftlichen Elemente vermochten also den „Geist der Todesverachtung“ zu erwecken. Denn wissenschaftlich sind seine Zukunftsvorstellungen weder verifizierbar noch falsifizierbar, sie sind nicht mehr als — im besten Fall — eine Arbeitshypothese, und für eine solche pflegt man nicht zu sterben.
Es mag jedoch sein, daß der Atheismus für den Marxismus notwendig war — vielleicht sogar zum Heil der Christen. Denn die Kirchen befanden sich, von rühmlichen Ausnahmen, wie etwa den britischen Methodisten, abgesehen, auf Seiten der herrschenden Klassen. So konnte die Gerechtigkeit, um deretwillen einst Moses den großen Exodus wagte, nur gegen das Christentum — und vielleicht nur über den atheistischen Umweg — zum Bewußtsein gebracht werden. Die „Ströme lebendigen Wassers“, von denen die Apokalypse spricht, scheuen nicht den Umweg. Einen größeren, als den über den Atheismus, um die Christen zu ihrem Christentum zu bringen, gibt es jedoch nicht.
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