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Abschied von Karl Marx

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Die deutsche Sozialdemokratie und der nationale Staat 1870 bis 1920. Von Hermann Heidegger. Musterschmidt-Verlag, Göttingen-Berlin-Frankfurt. 402 Seiten

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Die deutsche Sozialdemokratie und der nationale Staat 1870 bis 1920. Von Hermann Heidegger. Musterschmidt-Verlag, Göttingen-Berlin-Frankfurt. 402 Seiten

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Als Band 25 der „Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft" erschienen, gibt das vorliegende Werk eine umfangreiche Materialdarstellung zur Entwicklung des Staatsdenkens der deutschen Sozialdemokratie. Die Hinwendung der Sozialdemokraten zum Staat, der ihnen und der Arbeiterschaft des Vormärz nur in der Gestalt eines despotischen und konsequent die Position des Klassengegners einnehmenden Apparates erschienen war, steht im Gegensatz zur Marxschen Annahme vom Absterben des Staates, ein Theorem, das heute wohl nur als Interpretation einer gegebenen geschichtlichen Situation klassifiziert werden kann.

Das Buch zeigt nun insbesondere an Hand von Aussprüchen und Aufsätzen führender Sozialdemokraten, beginnend mit der Konstitution des Ersten Reiches, wie sehr sich die Sozialdemokraten in Deutschland den Gegebenheiten anpaßten. Während noch Marx das Bekenntnis zur Nation als einer dauerhaften Gemeinschaft unbekannt ist und Engels der Wie Einrichtung zur Knechtung beiterklasse darstellt, sieht Lassalle im Staat pine notwendige Gemeinschaft, bis hin zur Einsicht, daß der Staat nur insofern Gegner der Arbeiterklasse ist, als er sich als eine Summe von Maßnahmen gegen eben diese Arbeiterklasse erweist (S. 36). Nach einer Uebergangsperiode der betonten Staatsfremdheit (etwa: Kautsky) zeigt sich bei v. Vollmar eine Neigung zum Staatssozialismus, die Nationalität wird als ein ideales Gut betrachtet (Pemerstorfer), die Gewerkschaften erweisen sich — den sozialökonomischen Wirklichkeiten nüchtern gegenüberstehend — in einer erstaunlichen Weise staatsbejahend, die Aufwendungen für militärische Zwecke werden als neutral betrachtet (S. 96). Der Kriegsbeginn 1914 führt zum endgültigen Bruch der deutschen Sozialisten mit der marxistischen Staatsfremdheit, der vom Anfang an der Wirklichkeitsbezug fehlte. Freilich lockerte sich im Verlauf des Krieges die eindeutige pronationale Haltung der deutschen Sozialdemokraten, was sich bei der Frage der Bewilligung der Kriegskredite zeigte, wenn freilich gegenüber den linken Sozialisten ein eindeutiger Trennungsstrich gezogen wurde, so daß die Spartakisten, welche in der Internationale ihr Vaterland sahen, jenseits der offiziellen Partei ihr kurzfristiges Leben fristen mußten. Für Rosa Luxemburg war das Vaterland eine „elende Phrase“ (S. 107). Exzesse dieser Art konnten nicht mehr länger innerhalb der Partei ausgetragen werden. Die Opposition wurde aus der Partei aus geschlossen und errichtete neben den „Mehrheitssozialisten“ eine „unabhängige" Sozialdemokratie (S. 189).

Interessant sind die Untersuchungen über die Beziehungen der deutschen Sozialdemokraten zur Internationale, die sich als ein Instrument der Gegner Deutschlands erwies (S. 137), so daß nur die deutschen (und österreichischen) Sozialisten dem Gedanken der Internationale einigermaßen treu geblieben waren, die als Idee schließlich — insbesondere nach dem Krieg — ad absurdum geführt wurde (S. 142), so wenn die englischen Sozialisten den Sieg der Alliierten als eine Voraussetzung für einen Frieden betrachten (S. 144), ganz abgesehen von der schmachvollen Haltung der westlichen Sozialisten bei den Friedensverhandlungen.

Noch im alten kaiserlichen Deutschland werden Sozialdemokraten Regierungsmitglieder und dadurch kaiserliche Exzellenzen (S. 194), sie treten für eine demokratische Monarchie ein (S. 197) und entziehen Sich nicht def VerantfVb'ffun'g, Wehn auch difcht ;ihi Interesse des liquidierenden Systems, sondern'def" Arbeiterschaft.

Je mehr aber die Sozialisten in die Verantwortung genommen werden, desto stärker wird ihr Staatsbewußtsein, desto mehr verfestigen sich die konservativen Elemente in der Partei (S. 203), man denke an die großen Gestalten eines Ebert und Noske, Männer, welche die soziale Revolution „wie die Sünde hassen“ (S. 208).

Etwas unverständlich und nicht zum Thema gehörig sind die Ausfälle des Verfassers gegen die rheinischen Katholiken, denen er ihr Bemühen — endlich —, von Preußen loszukommen, sehr übel nimmt (S. 243). Wenn sie auch in Preußen den stärksten Partikularisten sahen, traten die Sozialdemokraten trotzdem für die Einheit dieses Preußens ein (S. 251). Der Klarheit in der Innenpolitik entsprach nicht eine entsprechende Eindeutigkeit in der Außenpolitik (S. 323).

Jedenfalls erwiesen sich die Sozialisten keineswegs als „vaterlandslos“, sobald Deutschland eben auch ein Vaterland für die Arbeiter war. Insoweit sind alle Sozialisten, wenn in Macht und Verantwortung, von einem unvermeidbaren Konservativismus „bedroht", der um so intensiver wird, je mehr sich die Sozialisten als eine Repräsentanz der Staatsmacht erweisen müssen.

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