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Kommt die Ära Wilson?

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Eine Reihe von Geschehnissen ließ die Durchschnittengländer in den letzten Wochen den überaus harten Winter, den Zusammenbruch der Brüsseler Verhandlungen, den Führungswechsel in der Labourparty usw. vergessen: die Niederlage der englischen Fußballnationalmannschaft gegen Schottland, ein unentschiedenes Resultat gegen Brasilien, Spionage im Marineministerium ... Und die Frauen beschäftigten sich selbstverständlich überwiegend mit der Hochzeit Prinzessin Alexandras von Kent mit Mr. Ogilvy. Aber auch die politisch interessierten Briten wurden Zeugen von Ereignissen, die am Abend und während des Wochenendes als Gesprächsstoff für die Konversationen am offenen Kaminfeuer dienten. Wer die englische Szene schon länger beobachtet, mit Londoner Angestellten, Arbeitern, Geschäftsleuten und Ingenieuren in einer Imbißstube vorzüglichen Tee oder schlechten Kaffee getrunken hat, kann sich nur wundern

über den raschen Wechsel der allgemeinen Stimmung von tiefer Niedergeschlagenheit unmittelbar nach dem Fehlschlag von Brüssel in den gegenwärtigen allgemeinen Optimismus. Wenn es nicht eine besondere Art von Galgenhumor ist, kann man nicht einfach anders, als die Gabe der Engländer zu bewundern, aus etwas Schlechtem das Beste herauszuholen. Unwillkürlich erinnert man sich der Tage von Dünkirchen, die in den Augen vieler Briten nach der Invasion und nach El Alamein der britischen

Armee den größten Triumph im zweiten Weltkrieg bescherten.

Warum Europa?

Ich traute diesem überall anzutreffenden Optimismus nicht ganz und fragte einige Leute um ihre Meinung. jAus den vielen Antworten seien hier nur jene wiedergegeben, welche die Haltung am besten kennzeichnen. Mr. H. von der britischen Industriellenvereinigung meinte, als ich ihn fragte, was er über den Zusammenbruch der Brüsseler Verhandlungen und damit über die europäische Integration denke, diese Frage langweile ihn zu sehr. „Warum Europa? Wir kümmern uns nicht um Europa.“ Und ein schottischer Wissenschaftler erklärte: „Vor einem halben Jahr — ja. Jetzt — nein. Wozu auch? Die Kennedy-Runde wird uns auch so Zugang zum europäischen Markt verschaffen. Die Autoindustrie wird eben ihre kontinentalen Zweigwerke vergrößern.“

Fast jeder Geschäftsmann antwortete, daß man eben jetzt erst recht den europäischen Markt erobern werde. „De Gaulle wird sich noch über uns wundern.“

Die Regierungspartei hat Sorgen

Parteimanager, freiwillige Helfer und Abgeordnete der Regierungspartei haben allerdings keinen Anlaß zu Optimismus. Zwar hat der nahezu fünfundsiebzig Jahre alte Premierminister Mac-millan vor kurzem auf einer Tagung des einflußreichen „Komitees von

1922“ der konservativen Unterhausabgeordneten verkündet, er selbst werde die Partei in die kommende allgemeine Wahl führen. Aber diese Entscheidung wird nicht einmal von allen Tories gutgeheißen, von unabhängigen Beobachtern sogar als wahlstrategischer Fehler bezeichnet. Im Gespräch weisen innenpolitische Kommentatoren auf die starken Stimmenverluste der Regierungspartei gegenüber der letzten Wahl von 1959 in einer Reihe von Nachwahlen hin, die auch nach dem Tode von Hugh Gaitskell und der Berufung Harold Wilsons zum Labourführer nicht endeten. Die Wahlkreise sind geographisch weit gestreut, weshalb der Rückgang der prozentuellen Anteile noch mehr wiegt.

Der Ausgang der Gemeindewahlen, durch die vor einigen Tagen etwa 3000 lokale Abgeordnetensitze bestimmt wurden, hat den aus der Tabelle hervorgehenden Trend bekräftigt. Gewiß bildeten diese lokalen

Wahlen keine Ausnahme von der Regel, und regionale, manchmal persönliche Fragen drängten die nationalen Belange in den Hintergrund. Die Ergebnisse sind daher zweifellos eher vorsichtig zu interpretieren. Dennoch kann eine empfindliche Niederlage der Regierungspartei und ein beachtlicher Erfolg der Oppositionspartei nicht geleugnet werden. Gegenüber 1960, einem schlechten Jahr für die Labourparty, dem letzten Zeitpunkt, zu dem die gleichen Sitze verteilt wurden, hat die Opposition netto 767 Mandate ge-

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