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Geistige Enge oder weitere Öffnung nach Wahl

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Die Nachkriegszeit ist vorbei und Österreich steht vor einem Qualitätssprung. Die Weichen dafür werden bei der Wahl am 17. Dezember gestellt. Die Frage ist, ob unser Sozialstaat umgebaut oder radikal abgebaut wird und ob unser Land zu geistiger Enge zurückkehrt oder sich weiter öffnet. Änderungen muß es geben, egal wie die Wahlen ausgehen, weil in unserer Gesellschaft ein großes Ausmaß an Unruhe entstanden ist, die sich produktiv oder destruktiv auswirken kann.

Die große Koalition war bereits vor dem 9. Oktober 1994, vor den letzten Nationalratswahlen, in ihrem Endstadium; sie hätte nur mit neuem Leben erfüllt werden können, wenn SPÖ und ÖVP wirklich gewollt hätten. Die Debatte um das Sparpaket I hat aber gezeigt, daß da kein Wille mehr da war. Beide Koalitionsparteien waren kraft- und saftlos geworden und sind kaum unterscheidbar gewesen.

Das Profil von SPÖ und ÖVP hat im letzten Jahr aber an Schärfe gewonnen. Die SPÖ ist einen Schritt nach links gegangen, sie hat ihr soziales Herz wiederentdeckt; die ÖVP mit Schüssel, Ditz, Stummvoll & Co (das heißt in Wirklichkeit der Wirtschaftsbund) ist einen Schritt nach rechts gegangen, das heißt, sie kündigt ein Rezept an, das neoliberal ist und' einen radikalen Schnitt ins Fleisch des Sozialstaates bedeuten würde.

Richten wir uns nach den Meinungsumfragen, dann erscheint ein Ergebnis, bei dem die SPÖ die Nummer 1, die ÖVP die Nummer 2 und Jörg Haider die Nummer 3 bleibt, wahrscheinlich. Die SPÖ ist kompakt und kampfbereit, und es könnte - um Haider zu verhindern - einen gewissen Solidarisierungseffekt mit der SPÖ geben.

Haider hat zwar im Oktober '94 22 Prozent der Stimmen bekommen, aber nur die Hälfte davon will ihn auch in einer Regierungsfunktion sehen. Es gibt also Wähler, die im Warteraum stehen, sozial verunsichert waren und sind, gegen die SPÖ protestiert haben, die aber zurückkommen könnten. Und was Intellektuelle und Kulturschaffende - die sogenannten Wegbegleiter - betrifft, wird vielen immer klarer, was Haider in der Regierung oder eine von Haider unterstützte Regierung heißen würde: geistige Enge und Intoleranz.

Nach dem 17. Dezember werden die Karten neu gemischt werden; folgende Möglichkeiten zeichnen sich ab: Die SPÖ bleibt stärkste Partei und der Abstand zur ÖVP bleibt gleich. Dann könnte es einen neuen Anlauf in Richtung einer „Großen Koalition Neu” geben. Dieser Anlauf wird schwierig sein und setzt voraus, daß die SPÖ gewillt ist, eine Reform der Reformen durchzuführen, zu sparen, aber sozial verträglich und gerecht. Diese Neuauflage der großen Koalition müßte die Handschrift der SPÖ haben und auf Seiten der ÖVP müßte neues Personal da sein.

SPÖ, Grüne und Liberale bilden eine Ampelkoalition. Das wäre ein deutliches Signal für Aufbruch und Reform, aber in unruhiger Zeit auch ein schwankender Boden, konfrontiert mit einem starken rechten bis rechtsextremen Block.

Die SPÖ geht in Opposition, weil sie kein Juniorpartner für Schüssel & Co sein wird. Die Ampel gibt es auf Seiten der Opposition; sie kann alle Gesetze, die eine Verfassungsmehrheit brauchen, blockieren. Bei einer ÖVP-FPÖ-Regierung, die einen radikalen Bruch mit dem Sozialstaat anstrebt und sozialdarwinistische Züge trägt, würde die SPÖ gute Chancen haben, nach kurzer Zeit gestärkt zurückzukommen.

Die ÖVP geht mit Haider eine offizielle oder inoffizielle Verbindung ein, vorausgesetzt sie bleibt Nummer zwei. Haider ist in jedem Fall im Spiel, weil es eine große Koalition unter ÖVP-Führung nicht geben wird. Diese politische Konstellation wird nur über eine hauchdünne Mehrheit oder nur eine Minderheit der Mandate im Parlament verfügen; die Verteilungskämpfe werden schärfer werden, wir werden in soziale Turbulenzen kommen und im Ausland an Reputation verlieren.

Der wahrscheinlichste Einlauf und eine sichere Dreierwette: ÖVP-FPÖ-Koalition oder eine ÖVP-Minder-heitsregierung unterstützt von Haider; eine große Koalition neu, die von der SPÖ geführt und bestimmt wird, also ein Umbau und eine sanfte Landung des Sozialstaates verbunden mit notwendigen Reformen; eine Ampelkoalition mit der SPÖ als Nummer 1, die einen Reformschub für unser Land bedeuten würde.

Österreich muß verändert werden und jede Regierung wird das tun müssen. Es wird aber darauf ankommen, mit welchem Tempo und auf wessen Kosten diese Veränderung passiert. Deshalb ist zu hoffen, daß am 17. Dezember die Vernunft regiert und sich eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler trotz Enttäuschungen und Wut im Bauch gegen die Unvernunft, den Irrationalismus, entscheidet.

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