Wie halten wir es mit Russland?

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"Joschka Fischer schreibt in seinem neuen Buch, dass derzeit die globalen Trends so ziemlich alle gegen Europa laufen: der demographische, der technische und der machtpolitische."

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wird nachgesagt, er wolle die EU spalten. Bei den Politikern und bei manchen Intellektuellen scheint ihm das ohnedies schon gelungen zu sein. Gegner und Versteher liefern einander heftige Wortgefechte. Irgendeinen Fortschritt gibt es dabei nicht.

In der komplexen Welt von Heute sind einfache und klare Lösungen ohnehin meist nur um den Preis von Realitätsverzicht zu haben. Bei der Fülle an Fake News, mit denen wir alle täglich zugeschüttet werden, empfiehlt sich zunächst einmal Misstrauen, soll zumindest heißen: bei allen Nachrichten kritische Überprüfung auf Plausibilität. Und wie wäre es mit der früheren strategischen Selbstverständlichkeit, dem Hineindenken in die Vorstellungswelt des jeweils anderen? Und last but not least sollten wir uns der vielfältigen Risiken der Weltlage bewusst sein, auf die beim eigenen Handeln Bedacht zu nehmen wäre.

Zwei gegensätzliche Erzählungen,

Beginnen wir mit dem Misstrauen bei den Nachrichten über das Giftattentat auf einen russischen Ex-Agenten und seine Tochter. Es war also doch Nowitschok. Das ist dem russischen Geheimdienst zuzutrauen, in dieser Welt voller Lügen aber auch jedem anderen Geheimdienst. Nur so wie offiziell zuletzt geschildert, nämlich mittels eines auf der Türklinke aufgetragenen Nervengifts, kann es nicht gewesen sein. Selbst das (im Vergleich zu Nowitschok deutlich schwächere) Nervengas Sarin wirkt auch in geringsten Mengen tödlich. Nach einem auch nur minimalen Kontakt mit einer ganz geringen Menge kommt man vielleicht noch ein paar Meter weiter, aber nicht bis zu einer entfernten Parkbank, und schon gar nicht auf dem Umweg über ein Wirtshaus. Und wer immer das Gift dort angebracht haben soll, müsste sich in einem der unförmigen Schutzanzüge dorthin begeben haben, mit denen Spezialisten dann den vermuteten Tatort untersucht haben, um nicht selber dabei umzukommen.

Nächster Punkt: Wie schaut die Vorstellungswelt der "jeweils anderen" aus? Zur Geschichte der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa gibt es zwei völlig unterschiedliche Narrative. Das eine lautet wie folgt: Die damalige Sowjetunion hat im Gefolge des Weltkriegs in den Staaten Osteuropas kommunistische Diktaturen errichtet, die massive Repression mit einem schlecht funktionierenden, nämlich dem kommunistischen Wirtschaftssystem verbunden haben. Diesen Staaten ist es trotz brutaler Unterdrückung und Gewalt wie etwa in Ungarn oder der Tschechoslowakei schrittweise gelungen, politische Freiheit und Demokratie wieder zu erlangen. Nachdem dieser Versuch auch in der Ukraine unternommen worden war, organisierte Putin eine Gegenrevolution in der Ostukraine und okkupierte zusätzlich die Krim. Nach dem gleichen Muster wird das brutale Assad-Regime in Syrien militärisch an der Macht gehalten.

Das andere Narrativ sieht so aus: Die Sowjetunion war 1941 einem massiven Angriff Nazideutschlands ausgesetzt, den sie nur mit äußerster Kraftanstrengung und mit mehr als 20 Millionen Toten überstand. Stalins Bestreben war es deshalb, ein möglichst großes Glacis zu schaffen, das solch einen weiteren Angriff unmöglich machen sollte. Dieses Glacis hat der Westen schrittweise erobert und damit eine ähnliche geographische Ausgangslage geschaffen wie 1941. Russland hat das letztlich hingenommen und lediglich erklärt, wenn man auch die Ukraine dem Westen zuschlage, werde eine rote Linie überschritten. Der Westen hat außerdem, vermutlich nicht ganz zufällig, Revolutionen dort besonders unterstützt, wo es wichtige russische Flottenstützpunkte gibt, wie etwa den wichtigsten russischen Militärhafen im Schwarzen Meer auf der Krim und den einzigen russischen Flottenstützpunkt im Mittelmeer in Syrien.

...beide richtig

Das Problem liegt darin, dass beide Narrative richtig sind. Das Geschehen war und ist so komplex, dass jede Seite für sich die jeweils ins eigene Weltbild passenden Fakten herausholen kann. Jede Seite kann deshalb beim Kramen in der Geschichte statt mit plumpen Lügen schlicht mit selektiven Wahrheiten operieren. Und keine Seite will respektieren, dass auch die jeweils andere ihre Gründe hat. Dabei wäre genau das für friedliches Nebeneinanderleben doch so wichtig.

Der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt hat in seinem 2010 erschienenen Buch "Außer Dienst" festgehalten: "Tatsächlich hat seit 1990 nicht Russland seinen militärischen Machtbereich ausgedehnt, wohl aber hat der Westen die NATO bis an die russischen Grenzen vorgeschoben. [] Die amerikanischen Regierungen haben die Zusagen, die sie 1990 der Sowjetunion gemacht haben, gegenüber dem geschwächten Russland nicht eingehalten. [] Ich bin darüber besorgt. Denn eine Politik der fortgesetzten Nadelstiche muss in Russland nationalistische Reaktionen hervorrufen."

Helmut Schmidt darf man wohl eher den Menschen mit Weitblick als den nützlichen Idioten zurechnen. Und der spätestens durch sein Buch "Die Schlafwandler" über die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs berühmt gewordene Historiker Christopher Clark hat betont, der Wiener Kongress habe nur deshalb für viele Jahre Frieden und Stabilität sichern können, weil er dem Grundsatz der Respektierung und Wahrung von Einflusssphären gefolgt sei. Clark hat in diesem Buch gezeigt, wie schnell es durch das Beharren auf echten oder vermeintlichen Idealen zu Katastrophen kommen kann.

Westliche Heuchelei

Der Vergleich zu heute ist nicht zu übersehen. Der Westen beruft sich auf seine Bedeutung als Wertegemeinschaft gegenüber einer angeblich aggressiven Machtpolitik. Mit Verlaub, da ist einiges an Heuchelei drin. Die Attacke auf Libyen fand statt, als Gaddafi bereits ziemlich handzahm geworden war. In Frankreich kursiert das böse Gerücht, dass hinter dem Angriff auch die Absicht des damaligen Präsidenten Sarkozy gestanden sei, den Mann los zu werden oder zumindest unglaubwürdig zu machen, der ihn mit ebenso beträchtlichen wie illegalen Wahlspenden unterstützt hatte. Nachträglich lässt sich das schwer überprüfen. Aber man mus sich des bösen Spruchs erinnern, dass man nie ein anständiges Motiv annehmen sollte, wenn auch ein unanständiges in Betracht kommt.

Kommen wir zur Gegenwart. Der Deutsche Bundestag hat gerade, vom Export von Panzern an die Türkei einmal ganz abgesehen, den Export von Patrouillenbooten an Saudi-Arabien gebilligt. Die dienen in der Praxis vor allem der Blockade des Jemen. Damit werden nicht nur Waffentransporte unterbunden, sondern auch Nahrungsmitteltransporte in ein Land, in dem Millionen Menschen bitter Hunger leiden. Nur die Grünen haben sich darüber aufgeregt, von sonstigen Verteidigern westlicher Werte war nichts zu hören. Moralische Hindernisse für eine Verständigung mit Russland sollte man daher zumindest nicht allzu hoch hängen.

Was ist zur aktuellen Weltlage zu sagen? Die derzeitige europäische Strategie der Förderung des Freihandels, in der Hoffnung, sich dann auf die eigene technische Konkurrenzfähigkeit verlassen zu können, stößt auf erhebliche faktische Probleme. Europa ist mit einer klugen chinesischen Offensive konfrontiert, die enorm effiziente Mittel kennt: viel Geld und den laufenden Aufkauf von Unternehmen, die über Schlüsseltechnologien verfügen. Bei der Sicherung wichtiger Rohstoffe wie Kobalt oder Seltener Erden haben die Chinesen bereits monopolähnliche Verhältnisse schaffen können, und das derzeitige Projekt unter dem Titel "Seidenstraße" zielt natürlich auf die Kontrolle über die Verkehrswege.

Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer hat gerade ein Buch über den Abstieg des Westens und Europa in der neuen Weltordnung veröffentlicht. Darin schreibt er, dass derzeit die globalen Trends so ziemlich alle gegen Europa laufen: der demographische, der technische und der machtpolitische.

"America First" nichts Neues

In dieser Situation hat Europa keine Verbündeten, auf die es sich verlassen kann. Über das Verhalten des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten braucht man sich nicht weiter auszulassen. Aber man sollte sich bewusst sein, dass der Slogan "America First" nicht allein ein persönliches Hobby Trumps ist, sondern eine Strategie, hinter der mächtige Interessen stehen. Das ist übrigens nichts wirklich Neues. In Europa hat man scheinbar vergessen, dass im Namen "NATO" das N für "Nordatlantik" steht, weil ein Pakt, der auch dem Namen nach dem Schutz Europas dienen sollte, im US-Kongress gar nicht durchsetzbar gewesen wäre. Zusätzlich wird das drohende amerikanische Rekord-Doppeldefizit -in der Handelsbilanz ebenso wie im Bundesbudget - den Egoismus der USA geradezu zwangsläufig verstärken.

Natürlich ist es Illusion, bei intensiveren Kontakten mit Russland auf Wandel durch Annäherung zu setzen, und natürlich ist Putin ein mit allen Wassern gewaschener Machtpolitiker. Aber er und der chinesische Präsident Xi Jinping sind derzeit nun einmal wesentlich schlauer als der gegenwärtige Präsident der USA, der vermeintliche Führer der westlichen Welt.

In dieser Situation mit erhobenem moralischen Zeigefinger auf Konfrontation und Abgrenzung zu setzen und Russland an die Seite Chinas zu drängen, statt mit dem größten Nachbar Europas zu einem vernünftigen Nebeneinander zu kommen (von Bündnis oder auch nur einem konstruktiven Miteinander kann derzeit ohnedies nicht die Rede sein), zeugt von dramatischer Selbstüberschätzung oder purem Leichtsinn - was sich noch bitter rächen könnte.

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