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Bürgerlicher „Bürgersdhreck”

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Tullio Vecchietti gehört also nicht zu jenen Politikern, die erst der rauhe Nordwind der Rėsistance nach Kriegsende nach Rom getragen hat. Mitgründer der Sozialistenpartei zweiter Auflage im Jahre 1942, hat er zwei Monate im Benediktinerkloster San Paolo in Rom verbracht, aber das Versteck erschien ihm nichts weniger als sicher und er verließ es, knapp bevor eine faschistische Razzia dort einbrach. Von seinen damaligen Mitkämpfern sind alle im Laufe der Zeit weiter nach rechts gerückt, Nenni, Sandro Per- tini, Ignazio Silone. Nur Tullio Vecchietti blieb immer links. Er ist überzeugt, daß sich die Formel der linken Mitte rasch abnützen, die Regierung Moro stürzen wird, sobald sie wieder im Sattel ist, und der PSI Nennis die sozialistische Wiedervereinigung nach harten Rückschlägen nicht mit den Sozialdemokraten Saragats, sondern mit dem PSIUP anstreben wird. In seinen neuen, noch kahlen Parteilokalen wartet Vecchietti auf diesen Augenblick. Seiner Meinung nach würde in Italien die Sozialdemokratie nie und nimmer den Wohlstand herbeiführen können. Das skandinavische Beispiel? Aber die Verhältnisse sind doch grundverschieden: dort gibt es eine geringe Bevölkerung, in Italien sitzt einer auf dem andern, außerdem haben diese Länder den Krieg nicht mitgemacht, sondern nur daran verdient. Der Wohlstand für alle ist auch gar nicht das Problem: es handelt sich darum, die großen Monopole zu bekämpfen, die privaten natürlich, in Italien und in der EWG. Das Schwergewicht Europas verlagert sich, dank dieser Monopole, immer mehr auf den Raum zwischen Mosel und Rhein.

Mann der vielen — Ismen

Doch als Vecchietti in seinen Erklärungen fortfährt, beginnt man zu verstehen, was ihm seine politischen Gegner nachsagen: die „eisige Flut” seines Integralismus, die doktrinäre Abstraktion, seine komplexe Dialektik, die Vorliebe für schwierige Wörter und Ismen: Nenni ist des Transformismus schuldig, des Reformismus, Anhänger eines entarteten Parlamentarismus. Die Kommunisten, mit denen ihn sonst enge Zusammenarbeit und herzliche Freundschaft verbinden, des Possilibismus. Nein, Vecchietti würde sich niemals im politischen Kampf damit einlassen, nur das im Augenblick Mögliche anzustreben. Er will immer alles, das Ganze, auch das Unmögliche. Die ganze Macht für die Arbeiterklasse. Der Klassismus ist für ihn der große Mythos, in den er auch absurde und utopistische Ideen einzubauen vermag, wie die These, daß man den Sozialismus in Italien auch mit den „aktiven Kräften” der Katholiken aufbauen könne. Die historische Schuld Nennis liege darin, daß er über die katholische Linke hinweggesprungen ist, sich an deren rechte Seite gestellt hat und sie praktisch damit vernichtet hat.. An welche katholische Linke Vecchietti wohl denken mag? An La Pira vielleicht in Florenz? Der würde allerdings keinen Augenblick zögern, auch die Kommunisten in die Regierung zu nehmen, überzeugt, daß er sie dort besser evangelisieren könne. Aber Typen wie La Pira sind Einzelerscheinungen.

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