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„Malvenflug“ von Ursula Wiegele: „Viereinhalb Jahrzehnte lang Stockrosen“

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Maria Renhardt über „Malvenflug“, den neuen Roman von Ursula Wiegele.

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Maria Renhardt über „Malvenflug“, den neuen Roman von Ursula Wiegele.

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Eine Familie aus Brünn und aus dem Kärntner Kirchbach in den 1940er Jahren, mitten im Krieg. Weil die Ehe aufgrund der Untreue ihres Mannes zerbrochen ist, geht Emma nach Davos, um in der Schweiz Geld zu verdienen. In dieser schwierigen politischen Situation gibt es in der Kernfamilie keinen Halt mehr für die Kinder; sie befinden sich an unterschiedlichen Orten und gehen teilweise schon ihren eigenen Weg.

Wie so oft schreibt das Leben selbst die interessantesten und eindringlichsten Geschichten. Auch die in Graz lebende Autorin Ursula Wiegele hat in ihrem Roman „Malvenflug“ auf ihre eigene Familiengeschichte zurückgegriffen und ihr Schicksal zum Thema gemacht, wie sie bei einer Lesung im Café Central erzählt. Der Titel kristallisiert sich mit fortlaufender Handlung als eine Art Leitmotiv heraus. Die Samen der Malvenblüten stehen für eine besondere Erinnerung. Helga, die älteste Tochter der Familie, kultiviert sie und streut sie an besonderen, ihr lieb gewordenen Orten in verschiedenen Ländern aus. Die bald darauf üppig blühenden Stockrosen sollen das Andenken an ihre ins KZ deportierte taubblinde Freundin Irene hochhalten.

Im ersten polyphon erzählten Teil stellt Wiegele die Perspektiven unterschiedlicher Familienmitglieder dar und umreißt damit auch deren Umgang mit dem beginnenden Nationalsozialismus. Die minderjährigen Zwillinge Lotte und Fritz befinden sich bei den Großeltern in Brünn, da man sie dort zunächst sicher glaubt. Den älteren Sohn Alfred möchte die Mutter, die mit den Nazis sympathisiert, nach Davos holen und ihm dort über NSDAP-Verbindungen einen Platz im Fridericianum verschaffen. Weil es nicht klappt, kommt er nach St. Paul ins ehemalige Stiftsgymnasium, das die NAPOLA nach der Vertreibung der Benediktinermönche übernommen hat. Später wird er Priester, bis er eine Familie gründet. Die älteste Tochter Helga tritt in einen Orden ein und der Vater, der nach seiner zweiten Heirat noch einen Sohn bekommt, verhält sich als Opportunist.

Im zweiten Teil steht Helgas Perspektive im Mittelpunkt. Viele Jahre sind seither vergangen; sie hat das Kloster verlassen und reflektiert ihr Leben und ihre Bindungen zur Familie in einer Art Rückschau. Ihr Glück hat sie erst später gefunden. Wiegele zeigt diese Familie in einem zartbitteren Beziehungsgeflecht, in dem jeder angesichts schmerzvoller Narben in der Eltern-Kind-Beziehung, Entfremdungserfahrungen und vererbter Kälte seine Position zu finden sucht. Irgendwann findet man wieder zusammen. Als markanter Subtext durchzieht dieses feinfühlige Familienporträt eine Auseinandersetzung mit den leidvollen Kriegsjahren, mit „der Vertreibung der Brünner Deutschen“ und dem Nationalsozialismus. Vieles von früher kann erst langsam aus der Retrospektive aufgearbeitet werden. Und bei den traditionellen Treffen in Italien, zu denen Helga all die Ihren einlädt, verteilt sie schließlich auch die Malvensamensäckchen in der Familie, wenn durch dieses besondere südliche Licht sanft gewisse Bilder zu wandern beginnen.

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