Cadbury - Cadbury, England, Jonathan Coe: "Bournville" - © Illustration: Rainer Messerklinger

Jonathan Coes Roman "Bournville": England, von Schokolade herbeigeträumt

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Die Geschichte einer Familie, die Entwicklung Englands nach 1945, das Schicksal einer Frau zu dieser Zeit und Herausforderungen der Gegenwart: Jonathan Coes jüngster Roman „Bournville“ erzählt alles zugleich.

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Die Geschichte einer Familie, die Entwicklung Englands nach 1945, das Schicksal einer Frau zu dieser Zeit und Herausforderungen der Gegenwart: Jonathan Coes jüngster Roman „Bournville“ erzählt alles zugleich.

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Den verhängnisvollen Weg, der zum Brexit geführt hat, analysierte Jonathan Coe in seinem unterhaltsamen Roman „Middle England“. Er zeigte darin die Polarisierung der englischen Gesellschaft und die Wände, die sich zwischen Freunde und Familienmitglieder geschoben hatten. Mit Ironie ging er gegen Identitätspolitiken vor, eine seiner Figuren erkennt am Golfplatz das Wesentliche von „Deep England“: „An diesem kostbaren, weltabgeschiedenen Ort gab es nichts Wichtigeres als die einfache, klar definierte Aufgabe, einen kleinen Ball mit möglichst wenigen Schlägen in ein kleines Loch zu befördern.“

Auch Coes jüngster Roman „Bournville“ wartet mit vielen Menschen auf, einem weit verzweigten Familienstammbaum, der auf den ersten beiden Seiten aufgezeichnet ist und wie jener der Königsfamilie bis nach Deutschland reicht. Viele Figuren sind aus bisherigen Romanen bekannt.

Was den polarisierten politischen Diskurs betrifft, der gern auch heftig im Privaten geführt wird, so geht es in diesem Roman etwas stiller zu. Und das ist, wie sich herausstellen wird, durchaus Konzept. Denn Familie, das ist auch: der Deckmantel des Schweigens.

Die Geschichte der Familie wird – mit Mary Lamb, einst Mädchen, dann Mutter und Großmutter, und ihren Söhnen Jack, Martin und Peter als rotem Faden– parallel zu sieben großen Ereignissen der britischen Geschichte nach dem Krieg erzählt: die Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945, die Krönung von Königin Elisabeth II am 2. Juni 1953, das Finale der Fußballmeisterschaft, bei dem am 30. Juli 1966 England gegen Deutschland spielte, die Investitur von Charles als Prinz von Wales am 1. Juli 1969, die Hochzeit von Charles und Diana am 29. Juli 1981, die Beisetzung von Diana am 6. September 1997, die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in Europa am 8. Mai 2020.

Bournville statt Bournbrook

Die Geschichte Englands wird aber nicht nur durch diese Daten und die Familie repräsentiert, sondern auch durch die Schokoladenfabrik Cadbury, für die Martin, einer der Söhne, arbeiten wird. Bournbrook hieß der Ort, an dem sie als kleines Familienunternehmen gegründet worden war, das sich um die Arbeiter kümmerte, ihnen aber streng puritanisch Alkohol verbot, sodass es zum nächsten Pub weit war. Die Schokolade sollte mit den Franzosen, Belgiern und Schweizern konkurrieren können, ihr Markenname musste einen „Hauch von europäischer Raffinesse und kontinentaler Kultiviertheit verströmen“. Aus „Bournbrook“ wurde also „Bournville“, ein von Schokolade herbeigeträumter Ort.

Mit Fett oder ohne: Der Kampf um die richtige Schokolade bringt nicht nur Kinder gegeneinander auf. Später wird sich der Streit in der EU bis in die absurdesten Details manifestieren. Coe, der in seinen Roman immer wieder unterschiedliche Genres einschiebt, etwa Tagebuchnotizen, fügt dafür ein Protokoll ein, das Sohn Martin 1996 in Brüssel geschrieben haben soll. „Ms. Keaton weigerte sich mit der Begründung, anders als bei einigen Ländern, die sie nennen könnte, liege Kapitulation nicht in der britischen Natur, und ihr Vater habe nicht in der Luftschlacht um England gekämpft, um anschließend französische Schokolade hinunterwürgen zu müssen, worauf Monsieur Guillon antwortete, sein Vater habe nicht in der Résistance gekämpft, um dann fetthaltige Schokolade zu essen, die nur etwas für Kinder sei. Bevor das eine oder andere Mitglied noch irgendetwas beitragen konnte, erklärte der Ausschussvorsitzende die Sitzung für beendet und gratulierte allen zu einem schönen Beispiel gesamteuropäischer Zusammenarbeit.“

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