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Babylon 1975

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Ist ein Dialog zwischen Christen und Marxisten überhaupt möglich? fragten wir irj» Vorjahr im Rückblick auf das zweite Symposium, das die polnische PAX-Organisation zum Thema „Frieden und Gerechtigkeit“ in Warschau hatte ablaufen lassen. Auch das dritte, das diesmal erst im Mai anberaumt war, konnte diese Fage aicht bejahen, trotz aller Bemühungen der Gastgeber, für die dieses Ja gine Existenzfrage darstellt. Und trotzdem war es nicht vergeblich, hundert Teilnehmer aus.ganz Europa, aus Ost und West — zwei Drittel aus West —, Priester, Wissenschaftler, Journalisten und „gewöhliche“ Friedenskämpfer eingeladen zu haben.

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Ist ein Dialog zwischen Christen und Marxisten überhaupt möglich? fragten wir irj» Vorjahr im Rückblick auf das zweite Symposium, das die polnische PAX-Organisation zum Thema „Frieden und Gerechtigkeit“ in Warschau hatte ablaufen lassen. Auch das dritte, das diesmal erst im Mai anberaumt war, konnte diese Fage aicht bejahen, trotz aller Bemühungen der Gastgeber, für die dieses Ja gine Existenzfrage darstellt. Und trotzdem war es nicht vergeblich, hundert Teilnehmer aus.ganz Europa, aus Ost und West — zwei Drittel aus West —, Priester, Wissenschaftler, Journalisten und „gewöhliche“ Friedenskämpfer eingeladen zu haben.

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Lag es nur an der freundlicheren Jahreszeit, daß auch die Stadt, das Land, der Ablauf der Tagung, die Diskussionsbeiträge einen freundlicheren Charakter zeigten, als bei den ersten beiden dieser Tagungen, die nun bereits zu einer festen Einrichtung geworden sind? Oder hat sich tatsächlich die allgemeine Lage in Polen und in Europa im allgemeinen gelockert, ohne daß der auf weltpolitische Vorgänge konzentrierte Beobachter die kleinen Anzeichen solcher Lockerung vermerkt hätte? Diesmal fehlten — obwohl doch die vergangenen Jubiläumsfeiern so manchen Anlaß hätten zurücklassen können — die bisher gewohnten Pflichtübungen östlicher Sprecher an Polemik gegen westlichen Kapitalismus und Imperialismus fast völlig. Diesmal zeigten sich auch jene auffällig gesprächsoffen, die noch vor Jahresfrist in solchen Pflichtübungen geschwelgt hatten. Diesmal fehlten aber auch auf der anderen Seite die Vertreter jener extremen Linken im westeuropäischen Katholizismus, die sich bisher vor allem durch Ausfälle gegen die „reaktionäre“ Kirche und ihre Hierarchie hervorgetan hatten.

„Zusammenwirken der Christen und Marxisten auf dem Gebiet des Humanismus“ lautete etwas umständlich das Tagungsthema, diesmal auf drei Arbeitsgruppen aufgeteilt, die sich mit den theoretischen Grundlagen des Dialogs, den politischpraktischen der Zusammenarbeit und Entspannung in Europa und schließlich den gemeinsamen Anliegen gegenüber der Dritten Welt befaßten. PAX-Chef Voleslav Piasecki, Graf, Staatsratsmitglied und — nach dem Volksmund als Boß der weitverzweigten Organisation — der „größte Privatkapitalist“ in Polen, sprang ein, als zwei der drei vorgesehenen Einleitungsreferenten ausfielen und markierte die Basis in den „sieben der zehn Gebote, die Christen und Marxisten gemeinsam“ wären, in der

gemeinsamen Abwehr des „Indifferentismus“, des „praktischen Materialismus“, der in Ost und West immer mehr vordringe — dem Christen müßte der ideologisch bewußte Marxist heute näher stehen, als der indifferente Mensch, der an nichts mehr glaube, und umgekehrt.

Vorstandsmitglied und Chefredaktrice des Pax-Führungsorgans „Zycie i Mysl“, Anna Borowska, Vorsitzende der schon wegen der übergroßen Zahl an Teilnehmern behinderten theoretischen Arbeitsgruppe, griff das Stichwort „Indifferentismus“ auf und präzisierte die Voraussetzungen, die für einen Dialog gegeben sein müßten — die Teilnahme der Katholiken an „linken“ Bewegungen gegen ungerechte Systeme einerseits, die Entwicklung der kommunistischen Parteien andererseits, wie sie etwa in Frankreich, Belgien und Italien festzustellen sei. Lag hier der versteckte aktuelle Wunsch der Pax-Leufe, der, eingepackt in die Holzwolle dreier Diskussionstage diesmal dem eigenen System präsentiert werden sollte? Im Vorjahr schienen die Anliegen offener vorgebracht zu sein.

Anna Borowska forderte, die anachronistischen Vorstellungen über den jeweiligen Gesprächspartner abzubauen und die Entwicklung der vergangenen Jahre zu berücksichtigen. Aber schon die Subsumierung aller jener, die im christlichen Bereich für Friede und Gerechtigkeit eintreten, unter „links“, aller jener, die der Möglichkeit eines Dialogs zwischen so divergenten Weltanschauungen und ihren Vertretern skeptisch gegenüberstehen, unter „rechts“, deutete auf ein noch sehr verwurzeltes Klischeedenken auch bei der sonst brillanten Journalistin.

Überhaupt zeigten sich die Schwierigkeiten bald, wenn es darum ging, aus Grundsatzerklärungen heraus zu Detailfragen überzugehen. Im Herbst vorigen Jahres war in Moskau eine „Charta der friedlichen Koexistenz,

der internationalen Sicherheit und Zusammenarbeit“ auf einer ähnlichen Friedenstagung angenommen worden, deren elf Forderungen nun in das Eingangspapier aufgenommen worden waren. Dem Wortlaut nach wären sie für jeden ohne Gewissenszweifel zu unterschreiben — aber verstehen wir unter denselben Worten denselben Inhalt? Sind Begriffe wie „Unantastbarkeit der Grenzen“, „Nichteinmischung“, „Gleichberechtigung der Völker“ und „Recht auf Selbstbestimmung“ hier wie dort gleich zu definieren? Schon die Frage nach der Erläuterung des zehnten Punktes zeigte dies deutlich. Dort wird die Pflicht statuiert, einem Land, das friedensbedrohende Aktionen setzt, jede Unterstützung zu verweigern — kann dies bis zur Auflösung der bestehenden Militärbündnisse gehen? Eine Frage an den gewiegten Vorsitzenden, „Slowo Powszechnie“-Chefredakteur Stefa-nowicz, der konkrete Hinweis auf das Ausscheren Rumäniens aus der Aktion der Ostblockmächte gegen die CSSR, wurde mit einem Expose über die rumänische Außenpolitik, nicht aber mit einer klaren Aussage beantwortet. Auch andere Fragen nach eindeutiger Deflnierung blieben offen. Das aber muß den Dialog in Frage stellen. Die Teilung des Kontinents, der Welt, in zwei ideologisch verschiedene Zonen ist eine Tatsache, die nicht nur von der Weltpolitik zur Kenntnis genommen werden muß. Die Teilung hat aber auch eine Auseinanderentwicklung der Semantik bewirkt, die Orwells „1984“ vorwegnimmt. Die beste Simultandolmetschanlage kann dagegen nicht helfen. Umso weniger, wenn die verschiedene Sinngebung bewußt in Rechnung gestellt wird. Wenn es zu einem echten Dialog kommen soll, wird man zuerst Babylon überwinden müssen.

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