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Die „Abhängigkeitsökonomen“ und die Befreiungstheologen

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Die marxistische Klassenanalyse ist (vereinfacht gesagt) Produkt einer bestimmten Philosophie im Gewände von Soziologie und zurechtgebogenen empirischen Daten. Es waren mehr oder minder marxistisch beeinflußte europäische Sozialwissenschaftler, die am Beginn der sechziger Jahre das Klassenschema auf den Kolonialismus anwandten und in Anlehnung an Lenins Imperialismustheorie Abhängigkeitsstrukturen zwischen Nord und Süd analysierten. Das Begriffspaar von Abhängigkeit und Entwicklung (Emanzipation), von Unterdrückung und Befreiung war geboren. Alle Entwicklungspolitik müßte zuerst diese Strukturen von Abhängigkeit brechen. Das bedeutete, den Kapitalismus in den westlichen Industrieländern abschaffen und selbständige Länder der Dritten Welt mit neuen sozialen Strukturen schaffen. Dann würde die Technologie von selbst den Entwicklungsländern zum Segen sein. Die sozialistischen Länder stellten zwar kein besonderes Vorbild mehr dar, würden aber durch ihr System die ersehnte Gleichheit in den Wirtschaftsbeziehungen nicht gefährden.

Die ganze Welt müßte so etwas wie sozialistisch werden nach den reichlich verschwommenen Vorstellungen dieser Entwicklungsapostel. Die neue internationale Wirtschaftsordnung sehen sie als Hebel für diesen Soziali-sierungsvorgang an, „gleiche“ Wirtschaftsbeziehungen zu schaffen durch Preis regelungen, Zahlungen der Reichen an die Armen und damit Einkommensverzichte derselben und Verzicht auf wirtschaftliche Disposition über ihr Eigentum. So ist Eigentumsverfügung durch die Multis jedenfalls böse.

Diese Ideen sind in einer eigenen Richtung der Ökonomie, der der Abhängigkeitsökonomen, aufgegriffen worden, die besonders auch in Lateinamerika anzutreffen sind. Ohne Rücksicht auf die Tatsachen und Realitäten wiederholen sie ihre Thesen, die so simpel und bestechend klingen, die kaum aber die Analyse von Karl Marx im ersten Buch des Kapitals überschreiten, sieht man von geänderten Vorzeichen ab. Einige dieser Ökonomen lehren offiziell an Universitäten wie in Mexiko-City, wo sie von linksorientierten Politikern unterstützt werden und auf der Woge des Antiamerikanismus mitschwimmen. Die Früchte ihrer Theorien sieht man in Slogans an den Wänden des dortigen Universitätsgettos von Riesenausmaßen.

Anläßlich einer Tagung der IPRA im Dezember 1977 in Mexiko, traf man aber auch weitere solcher „Wissenschaftler“ aus den Entwicklungsländern und einige ihrer europäischen Kollegen. Nicht daß diese „International Peace Research Association“ als ganze dieser Richtung wäre. Es gibt einige sehr beachtliche Kritiker am pseudo-marxistischen Unwesen. Auch die Vertreter aus den „sozialistischen“ Ländern scheinen nicht glücklich über so viel Unrealismus. Einige sehr scharfsinnige und konkrete Analysen der wirklichen Verhältnisse, Interessen und politischen Möglichkeiten wurden vorgetragen.

Aber da sind die nicht mehr ganz jungen Intellektuellen von Nord und Süd mit ihrem Abhängigkeits-Credo, besonders auch aus dem Gastland Mexiko. Haben sie überhaupt noch Kontakt zu ihren Völkern? Zum Teil sind sie längst emigriert, leben von Stipendien (auch der UNESCO) in einer eigenen internationalen Society, die sich von Tagung zu Tagung trifft - irgendwoher kommen die Gelder... Sie leben in einem elfenbeinernen Turm, eine Elite ohne Kontakt zu und Legitimation von ihren Völkern, deren Elend weitergeht und die weiter ihr Leben fristen. Sie sind nicht weniger entschuldbar als die Machteliten in vielen Entwicklungsländern, die auch nichts tun, als ihren politischen Einfluß mit Gewalt abzusichern und Kor-ruptiorien zu üben.

Muß denn wirklich der internationalen Arbeitsteilung die „Internationali-sierung“ des Kapitals, der „Sozialismus“ ä la Abhängigkeitsökonomen vorausgehen? Die Lage ist oft viel differenzierter und komplizierter. Die Multis sind nicht nur Buhmann, sie haben auch viel geleistet und könnten noch mehr leisten. Kapitaltransfers schaffen nicht nur Abhängigkeiten, sondern gegenseitig sehr nützliche Beziehungen, wenn man nur von einem an altes Autarkiedenken gemahnenden Unabhängigkeitsstreben loskommt. Der innere Strukturwandel ist nötig für die Entwicklungsländer. Aber insbesondere auch in ihrer Gesinnung, nicht zuletzt ihrer politischen Führungen (Oligarchien), muß sich ein Wandel einstellen!

Es geht doch nicht um Kapitalismus und Sozialismus, um Revolution und Reaktion, wenn etwas weitergehen soll. Es geht um das Ziel und die nächsten möglichen Schritte zu mehr internationaler sozialer Gerechtigkeit und Gemeinwohldenken und -Verantwortung aller. Soziale Ungerechtigkeiten erkennen und überwinden setzt mehr voraus als ein simples soziales Analyseschema, das dann immer dasselbe allgemeine Patentrezept wiederholt, aber in Wirklichkeit keine Lösung weiß und bringt.

Der Vergleich mit den von diesen Abhängigkeitstheorien her kommenden Theologen der Befreiung und Entwicklung liegt nahe, die auch keine pastorale Lösung für die Kirchen und die religiöse Not ihrer Völker wissen und erst recht auf die Hoffnung „Sozialismus“ dieser frei schwebenden Intellektuellen setzen. Damit setzen sie auf Kreise, die traditionell antikirchlich und atheistisch sind! Aber sie wollen in „ihrem“ Klassenkampf eben auf diese Seiten setzen und verzerren die Theologie und vergessen die Soziallehre der Kirche. Für sie scheint aber eine besonders aktuelle Stunde, vor allem in Lateinamerika, zu sein. Doch wer nimmt diese Chance wahr?

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