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Enttäuschung nach der Wende

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Eine Einigung Europas ohne die Berücksichtigung geschichtlicher, kultureller, demokratischer und religiöser Werte ist nach Ansicht des Triester Juristen und EG-Konsulenten, Michele Zanetti, ausgeschlossen.

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Eine Einigung Europas ohne die Berücksichtigung geschichtlicher, kultureller, demokratischer und religiöser Werte ist nach Ansicht des Triester Juristen und EG-Konsulenten, Michele Zanetti, ausgeschlossen.

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Es sei seine feste Überzeugung, daß ein vereinigtes Europa nicht nur „Regelungen, wie sie in Maastricht vorgelegt wurden", sondern auch die Verbindlichkeit „präziser Werte" voraussetze, sagte Zanetti bei einer Tagung in Dolenjske Toplice/Unter-krain, zu der der Verband Katholischer Publizisten Österreichs gemeinsam mit dem Bayerischen Presseclub und katholischen Journalisten aus Slowenien eingeladen hatte (FURCHE 18/93).

Der Individualismus, der nach dem Verschwinden des Kollektivismus zurückblieb, müsse im Blick auf eine gemeinsame Verantwortung überwunden werden. Die dafür nötige Bewußtseinsbildung in Schule, Familie und via Medien bleibe in Ost-, Mittel-und Westeuropa „weiterhin die wesentlichste Aufgabe der Christen". Auch in Zukunft, so Zanetti, müsse sich Europa „christlich" verstehen.

Zanetti kritisierte die um sich greifende Gleichgültigkeit gegenüber der Politik in den westlichen Gesellschaften. Den Parteien fehle eine Verankerung in geschichtlichen, kulturellen oder ideellen Wertmaßstäben, was die Ausschaltung jeglicher „moralischen und ideellen Spannung" zur Folge habe. Das sei keine Hilfe für die Staaten Ostmitteleuropas, so Zanetti. Dort sei zu beobachten, wie „westlich Gesinnte" auf die Entwicklung von Wertmaßstäben verzichteten und kritiklos der Konsumgesellschaft und einem egoistischen Individualismus huldigten. Dies umso mehr, als die „gesamten Führungsspitzen dieser Länder" aus Regimes hervorgegangen seien, in denen es ausschließlich um Politik und Ideologie gegangen war.

Der Tendenz zur Integration in die westliche Gemeinschaft stünde im

übrigen eine Exkommunisten und Nationalisten häufig vereinende Neigung zu den „kleinen Sicherheiten der Vergangenheit" und dem Schutz der eigenen nationalen Identität gegenüber. ,

„Manchmal scheint es", so Zanetti, „als erlebe man eine Neuauflage des Konflikts zwischen den westlich gesinnten und den slawophilen Gruppen im Rußland des 19. Jahrhunderts." Die Differenzen zwischen Walesa und Mazowiecki in Polen müßten ebenso in diesem Sinn verstanden werden wie die zwischen dem Forum und der Allianz der freien Demokraten in Ungarn oder die inneren Spaltungen in Rumänien. Für Serbien gelte das gleiche, auch wenn so gut wie jede Opposition ausgeschaltet sei.

Der Internationalisierung in der Politik stellte Zanetti die Internationalisierung in der Wirtschaft an die Seite: „Ich glaube, wir sind uns alle bewußt, daß sich gerade vor diesem Hintergrund die größten Enttäuschungen in der ersten Phase nach der Wende gezeigt haben." Auch wenn der Kapitalismus gegenwärtig „der Sieger" sei, könne er noch lange nicht als „das beste und richtigste Modell" betrachtet werden, gab der Jurist zu bedenken.

Die Lösung bestünde allerdings nicht darin, den Markt abzuschaffen. Vielmehr müsse ein Prozeß eingeleitet werden, der in den einzelnen Staaten und innerhalb der Grenzen Europas ein Gleichgewicht schaffe zwischen den Interessen der starken und schwachen Regionen, der großen, kleinen und mittleren Unternehmen, des Mittelstandes, der Armen und Randgruppen sowie der starken und der schwachen ethnischen Gruppen.

Zanetti: „Das .Subsidiaritätsprinzip scheint ganz sicher die beste Garantie für eine effektive Dynamik des Marktes zu sein." Der Jurist verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Grenzen des wirtschaftlichen Fortschritts, wie etwa die Notwendigkeit, die Umwelt zu schützen und derzu-folge auch die industrielle Entwicklung zu bremsen.

Zu den Werten, die er für das Zustandekommen eines friedlich geeinten Europas voraussetzt, zählt Zanetti auch die „nationalen Werte" in den um einen EG-Beitritt bemühten Ländern Ostmitteleuropas. Sie dürften nicht beseitigt, müßten vielmehr geschützt werden, „ganz besonders, wenn sie sich in Formen ausdrücken, die nicht unbedingt in den Nationalstaat klassischer westlicher Prägung münden sollen".

Zanetti: „Wollen wir auf solidarische und friedliche Weise die Unterschiede und Konflikte der verschiedenen Nationalitäten in Europa überwinden, müssen wir unsere ganze Kraft für eine übernationale Institution einsetzen und uns dem oft blutigen und in jedem Fall sehr gefährlichen Weg in Richtung des Nationalstaates entgegensetzen."

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