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Leben ist alles

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Das „Recht auf Frieden“ signalisiert eine neue Generation von Menschenrechten. Christliche und marxistische Wissenschaftler diskutierten in Straßburg darüber.

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Das „Recht auf Frieden“ signalisiert eine neue Generation von Menschenrechten. Christliche und marxistische Wissenschaftler diskutierten in Straßburg darüber.

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Das Problem der Menschenrechte und ihrer weltweiten Durchsetzung erfährt durch die atomare Bedrohungssituation eine Ausweitung, die an die Kernfrage des Uberlebens der Menschheit rührt. Wozu diese Lage Völker, Nationen, Staaten und Gesellschaftssysteme drängt, war Thema eines Symposions im Schloß Klingenthal bei Straßburg, an dem christliche und marxistische Wissenschaftler — Juristen, Völkerrechtler, Ethiker, Sozialwissenschaftler, Politologen, Theologen und Philosophen -teilnahmen.

Daß dabei die Forderung nach einer „Umgestaltung“ des Bewußtseins den Mittelpunkt der im wesentlichen ohne propagandistische Hintergedanken vorgebrachten Überlegungen der sowjetischen Gesprächsteilnehmer bildete, lag auf der Hand. Diese „Perestrojka“ hat nach den Worten Michail Krutogolows und Eduard Batalows, Völkerrechtler in Moskau beziehungsweise Mitglied des USA/Kanada-Instituts der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, eine Entwicklung in Richtung „gesamtmenschliche Werte“ zur Folge. Unisono gaben sich die sowjetischen Teilnehmer des 14. Dialogtreffens „Christen und Marxisten im Friedensgespräch“ (veranstaltet vom

Wiener Universitätszentrum für Friedensforschung, vom moskauorientierten Internationalen Institut für den Frieden/Wien, vom Internationalen Friedensrat/ Moskau und der Katholischen Universität Washington) davon überzeugt, daß sich heute „die Menschheit“ zu einem Gebilde entwickelt, das gewisse Rechte und Pflichten — an erster Stelle das „Recht auf Leben und Frieden“ - gemeinsam einzufordern und zu fördern hat.

Ungeachtet menschlicher Interessen, abseits von egoistischen Ausrichtungen des Menschen konstruierten die sowjetischen Wissenschaftler eine gemeinsame Menschheitsfamilie, die als höchster zu erreichender Wert marxistische und christliche Wertvorstellungen übertreffe. Das Interesse der Menschheit — so wurde sowjetischer seits gefolgert-richtet sich auf ein Leben in Frieden. Konkrete Politik müsse sich auf dieses globale „neue Denken“ einstellen und Anachronismen — das Abschreckungsdenken und, wie könnte es anders sein, die strategische Verteidigungsinitiative der USA — überwinden.

Von den Gesprächsteilnehmern aus dem Westen wurde die Vorgabe der sowjetischen Wissenschaftler — Demokratie, Freiheit und Menschenrechte als große Ziele der Menschheit könnten in einer Welt der Feindschaft, Angst und Gewalt nicht fest sein — umgedreht. Friede lasse sich nur auf Basis von individueller Freiheit, Mitbestimmung und Demokratie gewährleisten. Dabei wurde Friede aber zu sehr als Endzustand denn als dauernder Prozeß beschrieben.

Während also auf der einen Seite „die Menschheit“ immer mehr zu einem faszinierenden Ziel intellektuellen und politischen Spiels wird — ohne daß genau gesagt wird, wie diese Menschheit konkret organisiert sein soll und wer für sie spricht, letztlich bleibt nur die Ratifikation von völkerrechtlichen Entscheidungen auf nationaler Basis ohne große Kontrollmöglichkeit (Vorwurf: Einmischung in innere Angelegenheiten) —, wird auf der anderen Seite zu stark auf Verwirklichung des Individuums gepocht.

Die Friedens- und Menschenrechtskonzeptionen in Ost und West sind noch immer eine Systemangelegenheit. Zweifellos ist es aber unmöglich, zu einem weltweiten „neuen Denken“ zu kommen, solange gewisse Grundrechte wie freie Aus- und Einreise, Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit nicht auch in geschlossenen kommunistischen Systemen verwirklicht sind. Das Denken in Systemschablonen behindert die Bewußtseins-Perestrojka.

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