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Recht: der Fetzen Papier…

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Nach der Entscheidung des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts wider die Fristenlösung entzündete sich unter deutschen Rechtsphilosophen eine sehr interessante Diskussion über die Frage, wieweit christliches — also katholisches und evangelisches — Gedankengut Gerichtsurteile präge. Diese Diskussion wurde und wird auf sehr hohem akademischen Niveau geführt. Auch jene, die von einer ,JCatholisierung des Rechts“ sprachen, verbanden damit keine plumpe Demagogie. Schließlich wirkt christliches Gedankengut in nahezu allen Bereichen von Kultur und Gesellschaft. Es über Bord zu werfen, würde bedeuten, allen traditionellen Werten abzuschwören. Der bundesdeutsche Mob behandelte die Entscheidung des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts weniger diffizil; er ging auf die Straße.

Wäre er bei seinen Protestmärschen bis nach Österreich gekommen, er hätte auf den Sekretär des Justizministers, den politisierenden Staatsanwalt Keller, stoßen müssen. Dieser erklärte zum Karlsruher Urteil wörtlich: „Daß ein Gerichtshof sich anmaßt, ein auf demokratische Weise zustande gekommenes Gesetz außer Kraft zu setzen, ist in einer Demokratie eine bedenkliche Angelegenheit. Die Richter haben nicht über den demokratisch bestellten

Organen zu stehen… es handelt sich hier um eine politische und nicht um eine rechtliche Frage."

Tatsächlich bedenklich ist, daß ein Staatsanwalt der Republik Öster reich die Verfassungsgerichtsbarkeit mit den plumpen Waffen der Demagogie in Frage stellt. Eben deshalb löste seine Äußerung einen Proteststurm der interessierten Öffentlichkeit aus, was Keller veranlaßte, gegenüber der „Arbeiterzeitung“ zu erklären: „Ich stehe voll zu dem, was ich gesagt habe.“

Hinter der Feststellung Kellers, die für einen Teil in der Sozialistischen Partei repräsentativ sein dürfte, steht die Überzeugung, daß alles Recht nichts sei gegen das „gesunde" Rechtsempfinden der Mehrheit; Rechtsordnungen seien nicht einmal das Papier wert, auf dem sie niedergeschricben sind, sobald zufällig zustande gekommene Mehrheiten sie verwerfen.

In der „Deutschen Ideologie“ schrieb Marx, daß das Recht ein wesentlicher Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft sei; daß es demnach eine Illusion sei, zu glauben, daß das Gesetz auf dem „von seiner realen Basis losgerissenen, dem freien Willen beruhe“. Vielmehr sei das Gesetz nichts weiter „als die Form der Organisation, welche sich die Bourgeoisie sowohl nach außen als nach innen hin, zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig gibt".

Die Marxsehe Rechtsphilosophie wurde später von Franz Oppenheimer ausgebaul und von Eugen Ehr lich, wenn man so will, vollendet: Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung, so schrieb er, liegt zu allen Zeiten weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz, sondern in der Gesellschaft selbst. Ehrlich hebt insbesondere die „Verspätung“ der R echtssysteme hinter den sie tragenden sozialen Systemen hervor. Er und die sogenannte „Schule der Freirechtler“ glaubten, auf den Begriff der Rechtsnorm verzichten zu können, der ganz und gar durch die Rechtswirklichkeit ersetzt werden sollte. Eine solche Auffassung muß, denkt man, sie zu realisieren, die Rechtssicherheit außerordentlich gefährden. Die Erfahrungen mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus (Volksrecht) haben das später auf sehr grausame Weise bestätigt.

Der politisierende österreichische Staatsanwalt wird jeden Vergleich seiner Auffassung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mit faschistischen und nationalsozialistischen Tendenzen vermutlich schärfstens zurückweisen. Er wird wahrscheinlich auch nicht anerkennen wollen, daß von seinem Rechtsempfinden zur Lynchjustiz ein, theoretisch gesehen, nur kleiner Sprung ist. Denn letztlich beruht Lynchjustiz ebenfalls auf einem Mehrheitsentscheid.

Die Bundesverfassung ist ein Abwehrrecht gegen die Willkür des Einfach-Gesetzgebers. Sie ist unter Umständen wirklich nur ein „Fetzen Papier“, wenn eine oder mehrere Parteien eine Regierung bilden, die sich auf eine Zweidrittelmehrheit im

Parlament stützen kann. Damit ist auch eine der Gefahren der großen Koalition genannt: die Aushöhlung der Bundesverfassung. Allerdings ist die Konsensbildung über grundsätzliche Fragen in großen Koalitionen äußerst kompliziert; eine Fristenlösung nach sozialistischem Vorbild wäre in einer solchen großen Koalition wohl nie zustande gekommen, eher schon die Indikationenlösung.

Staatsanwalt Keller hält an seiner Meinung fest, daß die Aufhebung eines Gesetzes wegen Verfassungs- Widrigkeit in einer Demokratie eine bedenkliche Angelegenheit darstelle. Seine Vorstellungen von Rechtsnorm, Rechtswirklichkeit und Rechtssicherheit sind derart problematisch und mit der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar, daß sich der Justizminister fragen sollte, ob es noch einen Sinn hat, ihn weiterhin als Sprecher des Justizressorts fungieren zu lassen. Für Juristen gibt es schließlich auch andere Berufe.

Wie man hört, beabsichtigt er ohnedies, in die Politik zu gehen. Hier wird sich die sozialistische Partei ernsthaft fragen müssen, ob für einen Mann mit seinem Rechtsverständnis ein prominenter Platz in ihren Reihen ist. Jene Toleranz, die sie Leuten vom Schlage eines Kellers heute erweist, hat die deutsche SPD schon vor sechs Jahren geübt. Damals hat sie Verständnis für jene linksterroristischen Gruppen gezeigt, die ihr heute Niederlagen be- • reiten. In Berlin und anderswo.

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