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Rote Wende hausgemacht

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„Polit-Asthmatiker ohne langen Atem“ sieht Clemens Steindl in der SPÖ. Haben nun die Sozialisten ihre „neue“ Politik tatsächlich nur von der ÖVP abgeschrieben?

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„Polit-Asthmatiker ohne langen Atem“ sieht Clemens Steindl in der SPÖ. Haben nun die Sozialisten ihre „neue“ Politik tatsächlich nur von der ÖVP abgeschrieben?

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Die siebziger Jahre brachten zwei disparate Entwicklungen: die sogenannte Studentenrevolte wie auch das Entstehen der „grünen“ Bewegungen förderten Einstellungen, welche Wirtschaftsund damit Einkommenswachstum überhaupt ablehnten.

Aber darüberhinaus entstanden eine Reihe von Entwürfen, die wieder darauf abzielten, Alternativen zur „kapitalistischen“ Gesellschaft zu entwickeln.

Wiewohl jene so weit von der Realität entfernt blieben, daß sie sehr rasch der Vergessenheit anheimfielen (und diese Bewegungen stets nur auf das wohlhaben-

de Bürgertum und dessen Nachkommen beschränkt blieben), fanden die Ideen ihren Niederschlag in der sozialistischen Programmatik wie Politik. Symbol dieser Entwicklung wurde Olof Palme. Aber auch im Programm der SPÖ von 1978 haben viele solcher Gedanken ihren Niederschlag gefunden.

Fast zur gleichen Zeit, spätestens aber nach dem „ersten Erdölschock“ Mitte der siebziger Jahre, wurde eine Reihe entscheidender Erfahrungen gesammelt.

Erstens wurde offenbar, daß der — bei steigendem Einkommen nicht ohne weiteres einsichtige — permanente Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu immer stärkerer Steuerbelastung mit allen indivi-dual- und gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen führt; zweitens diese Entwicklung verbunden mit hohen und wachsenden Einkommenserwartungen eine latent inflationäre Situation schafft.

Drittens angesichts dieser Umstände, aber auch ganz allgemein die Möglichkeiten der Wirt-

schaftspolitik viel begrenzter sind, als zu Zeiten des raschen Wirtschaftswachstums angenommen worden war; und daß viertens infolge des immer enger werdenden staatlichen Handlungsspielraumes auch im öffentlichen Bereich der Rentabilitätsgesichtspunkt stärker berücksichtigt werden müsse.

Diese Erfahrungen führten in manchen Staaten zu einer „Wende“ in mehrfacher Hinsicht: im angelsächsischen Bereich übernahmen Parteien die Regierung, deren Wirtschaftspolitik das möglichst uneingeschränkte Funktionieren des Marktmechanismus zum Ziel hat. Aber auch die sozialdemokratische Politik lernte aus dieser Entwicklung.

Die letzte Regierung Palme mußte schon die früher von ihm verfolgte Politik revidieren, und

sein Nachfolger scheint diese Richtung noch konsequenter zu verfolgen. Auch der französische Ministerpräsident Laurent Fabi-us betrieb eine solche Politik. Und nicht zuletzt schlugen sich diese Erfahrungen in der Wirtschaftspolitik und der wirtschaftspolitischen Diskussion der österreichischen Sozialisten nieder.

Solches dokumentiert ausführlich der Band „Perspektiven 90 -sozialdemokratische Wirt-

schaftspolitik — eine Diskussion“, der 1985 erschien. Da jedoch das Lesen von Büchern unter österreichischen Journalisten als standeswidriges Verhalten gilt, blieb all dies unbekannt, und es konnte der originelle Gedanke entstehen, die Sozialisten seien von der volksparteilichen Wahlplattform derartig fasziniert gewesen, daß sie diese flugs übernommen hätten.

Angesichts der theoretischen Entwicklung in der SPÖ und der wirtschaftspolitischen Erfordernisse kann es auch nicht überraschen, daß die Partei einem Finanzfachmann das Amt des Bundeskanzlers anvertraut hat, denn dort wird Fachwissen noch immer hoch eingeschätzt.

Doch — so meinen viele — ihm wie auch dem zeitgenössischen Sozialismus fehlten die „Visionen“! Seit die religiöse Fundierung unseres Lebens immer schwächer wird, macht man sich allenthalben auf, um den „Sinn des Lebens“zu suchen.

Nun könnte man sagen, daß gerade für die SPÖ diese Forderung nicht so absurd wäre, da sie ja ursprünglich ein wahrhaft umfassendes Weltbild präsentiert habe. Dennoch scheint solches abwegig, weil die sozialistischen Parteien der Vergangenheit Menschen vertreten haben, die nicht nur in materieller Bedrängnis lebten, sondern auch jenseits der Gesellschaft, in der sie arbeiten mußten.

Heute hat sich die Situation gerade verkehrt. Die sozialistischen Parteien sind heute staatstragende — in Österreich die staatstragende — geworden, weil die Arbeiterschaft vollständig in die Gesellschaft integriert ist, weil sie deren Entwicklung in hohem Maß bestimmt, weil sie heute ein Vielfaches von dem verdient, was sie damals an Lohn erhielt, weil sie umfassend sozial abgesichert ist.

Es liegt auf der Hand, daß unter solchen Bedingungen politische Parteien einen ganz anderen Stellenwert im menschlichen Leben einnehmen müssen als vor einem Jahrhundert. Und es müßte heute, weiß Gott, genügen, wenn eine Partei sagen kann, wie sie die Probleme des nächsten Jahrzehnts zu lösen weiß.

Aber jenen, die nach „Visionen“ suchen, sei in Erinnerung gerufen, daß sich die sozialistischen Parteien nie mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zielen begnügen, sondern stets die geistige Entfaltung des Menschen im Auge hatten.

Auch auf diesem Wege ist man gerade in den vergangen Jahrzehnten durch den Ausbau des Schulwesens einen großen Schritt weitergekommen. Das Problem der allgemeinen Bildung, des Kontaktes zum Kulturleben ist aber sicherlich eine Aufgabe, die in das nächste Jahrtausend hineinreicht.

Der Autor ist Universitätsdozent und Mitglied der Leitung des Osterreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung.

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