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Das Volk wird für dumm verkauft

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In seinem äußerst fahlen Bericht zur Lagie der Nation verhieß Ungarns sozi alistischer Regierungsche Gyula Horn dem Volk leis lieh doch den Aufschwung - allerdings um den Preis von viel Schweiß.

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In seinem äußerst fahlen Bericht zur Lagie der Nation verhieß Ungarns sozi alistischer Regierungsche Gyula Horn dem Volk leis lieh doch den Aufschwung - allerdings um den Preis von viel Schweiß.

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Horn versäumte keine Gelegenheit, die „unzulängliche Wirtschaftspolitik“ der im Mai 1990 aus den ersten demokratischen Nachkriegswahlen hervorgegange- nen christlich-nationalen Koalition für alles Übel im Lande verantwortlich zu machen. Die Methode ist nicht neu, dafür umso praktischer. Es gilt, ein Phänomen zu beschimpfen, während die Verantwortlichen, die womöglich nach wie vor lukrativen Tätigkeiten nachgehen, diskret unerwähnt bleiben. So hatte man es in Kädärs Sozialismus genanntem Zwitterregime gehalten, wenn es um die Kritik der stalinistischen Diktatur ging, und so hielten es Joz- sef Antall und Erben in bezug auf die Zeit bis zu den freien Wahlen.

Nun sieht die sozialliberale Koalition auch keinerlei Veranlassung, diesbezüglich umzudenken. Nur wirkt es mittlerweile schon grotesk und unglaubhaft, den Kampf nur der - tatsächlich überaus korrupten - Privatisierungsbranche anzusagen, wenn sich die jetzige Regierung ausgerechnet aus diesen Kreisen unzählige Berater und Experten geholt hat. Sie stammen fast ausnahmslos aus dem früheren KP-Apparat.

Die geschickt dosierte, doch umso plumper wirkende Vergangenheitskritik übergeht außerdem auch noch die Tatsache, daß die - in der Führung sicherlich von namhaften Reformkräften durchsetzte — KP gerade aus dem Grund abtreten mußte, weil sie das Land wirtschaftlich in eine Katastrophe ohnegleichen geführt hatte. Sie hatte die mehr als 26 Milliarden Dollar betragende Westverschuldung elegant den Christlich-Nationalen überlassen, die sie auch nicht tilgen konnten. Diesen ist es immerhin gelungen, die weitere Erhöhung des astronomischen Betrages zu vermeiden.

Den Preis dafür hat die Bevölkerung bezahlt - und zwar in einer äußerst demütigenden Art und Weise. Es waren nicht die Opfer, die der Alltagsbürger beklagte, sondern es war die Ignoranz, die er seitens der Antall-Regierung erfahren mußte. Der Durchschnitt in Stadt und Land war durchaus bereit, Entbehrungen in Kaüf zu nehmen, vorausgesetzt, daß man ihm endlich die Wahrheit gesagt hätte über sich selbst, die Politik, die Geschicke des Landes, die Zeitgeschichte und auch über all die Wunden und Traumata, die man in den vergangenen Jahrzehnten hatte erleiden müssen.

Statt dessen wurde einem stets die rot-weiß-grüne Trikolore vor der Nase gehißt, während Politiker bei jeder erdenklichen Gelegenheit die abgedroschenen Phrasen eines niedagewesenen „christlichen Ungarn“ schmetterten und gleichzeitig Kabinettpolitik betrieben. So wurde der Pakt mit der noch von den Kommunisten gezüchteten Technokraten- Schicht „im Interesse der Regierbar - keit des Landes“ geschlossen — mit dem Ergebnis, daß diese jedwede wirksame gesetzliche Regelung der Privatisierung verhindern konnten. Am Fleischtopf war dann Platz genug für die Genossen, die enteignetes - sprich: geraubtes - Eigentum noch rechtzeitig „neutralisiert“ hatten, um es dann ihren früheren Günstlingen gegen Partizipation am Geschäft anzuvertrauen.

Dem Alltagsbürger, der dafür die Nationalhymne so oft in der Öffentlichkeit singen durfte, wie es ihm beliebte, wurde dies freilich schamlos verschwiegen. Er hat übrigens bisheute keine Möglichkeit, eine genaue Kontrolle dessen vorzunehmen, was mit seiner Steuer in Wirklichkeit bewerkstelligt wird.

KRISENZEITEN NAHEN HERAN

Nun hat aber Demokratie nicht nur mit freien Wahlen zu tun. Wenn die meisten, mittlerweile fast vollends apolitisch gewordenen Ungarn heute sagen, eigentlich habe sich in den vergangenen vier Jahren nichts geändert, so dürften sie damit eine gewisse Entmündigung meinen. Ohne zur Wahrheit zu stehen, ist keine moralische Erneuerung möglich. Sie in die Wege zu leiten, hatte die christlich-nationale Koalition verabsäumt. Der Parlamentarismus, dessen tadelloses Funktionieren sie der westlichen Welt stets so stolzvermeldet hatte, sichert gewiß den verfassungsmässigen Rahmen fürs Geschehen im Lande - doch gleichzeitig droht er immer mehr an Substanz zu verlieren, ohne die er insbesondere in Krisenzeiten in Frage gestellt werden wird. Und gerade diese nahen.

Die sozialliberale Koalition hat die Wahl, den Forderungen des IWF und der Weltbank nachzugeben und mittels einer bislang noch nicht dagewesenen rigorosen Wirtschaftspolitik wieder einmal die Bevölkerung zu treffen - oder der Zahlungsunfähigkeit des Landes, die spätestens im nächsten Sommer offenkundig werden wird, entgegenzuschreiten. Beides wird Spannungen zur Folge haben, die nur in einer funktionierenden Demokratie kanalisiert werden können.

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