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Der emanzipierte Bürger wird auch weiterhin nicht gebraucht

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Jetzt' auf einmal wissen die ungarischen Wahlverlierer, die Christlich-Nationalen, erstaunlich gut, was sie hätten tun sollen, um am Ruder zu bleiben.

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Jetzt' auf einmal wissen die ungarischen Wahlverlierer, die Christlich-Nationalen, erstaunlich gut, was sie hätten tun sollen, um am Ruder zu bleiben.

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Nach den Worten des politischen Staatssekretärs Tamas Katona (MDF) habe man es leider unterlassen, „dem Volk die Dinge auf die Nase zu binden“. Und in der Tat hat man den Bürgern stets sorgfältig vorenthalten, was die Hände der Koalition von vornherein in den wichtigsten Bereichen gebunden hat.

Da war gleich der Pakt, den man - freilich „im Interesse der Regier -barkeit des Landes“ - mit der noch von den Kommunisten gezüchteten Schicht der korrupten Technokraten in Wirtschaft und Verwaltung geschlossen hatte.

In einer Gesellschaft, die sich vom mündigen und emanzipierten Bürger her legitimieren will, sollte eine Regierung schon den Mut zum verantwortlichen Offensein haben und erklären, daß Kompromisse dieser Art zur Wahrung der*relativen Stabilität unerläßlich seien.

Doch so sah man zunehmenden arroganten Reichtum auf der einen und Stagnation sowie voranschreitende Verarmung auf der anderen Seite. Und während die Regierung vor moralischer Überheblichkeit und Selbstanhimmelung strotzte, beging sie den schwersten Fehler, der nun zu ihrem Sturz geführt hat. Es ging um ein überhebliches Preisgeben einer Chance, die wahrzunehmen für sie eigentlich ein historischer Auftrag hätte sein sollen und müssen.

„CHRISTLICHES“ UNGARN

Übernommen hat sie vor vier Jahren ein Land, dessen Bürger in ihrer überwiegenden Mehrheit infolge der Diktatur psychisch traumatisiert und moralisch desintegriert waren. Diese Entfremdungserscheinungen äußerten sich vor allem in einer Empfindungslosigkeit Begriffen wie Verantwortung, soziales Verhalten, Arbeit und Gesetz gegenüber.

Hinzu kam auch noch eine fast gesamtnationale Identitätsstörung in bezug auf die Vergangenheit. Die Gründe dafür können im entmenschlichenden Herrschaftssystem gefunden werden.

Nun ist es aber keiner der christlich-nationalen Parteien eingefallen, dem gezielt, mit der Intention einer Entkrampfung, Klärung und, ja auch Heilung zu begegnen. Die für viele „Politiker“ mit Wahrung der Stabilität kaschierte Geltungssucht, endlich auch einmal „regieren“ zu können, war stets wichtiger als Schritte zür Heranbildung des auto

nomen und emanzipierten' Bürgers. So unterließ man tunlichst die Schaffung gesetzlicher Rahmen für eine Vergangenheitsbewältigung.

Ergebnis: Nicht nur mutmaßliche Massenmörder, sondern auch Tausende Schreibtischtäter in Groß- und Kleinformat, allesamt Verantwortliche für das gesamte Elend von vier Jahrzehnten niederträchtigster Diktatur, können sich als ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft wähnen.

In einem Land, wo Vergangenheitsbewältigung, die lediglich die öffentliche Klärung rechtsstaatlicher Normen zum Inhalt hatte, von vornherein als „Hexenjagd“ bezeichnet wird, dürfte die Be wußtwerdung des Bürgers für die Regierenden nicht einmal von tertiärer Bedeutung sein. Dafür übergoß man das „Volk“ reichlich und unentwegt mit den Phrasen einer heilen und kläglich erlogenen Vergangenheit. „Christliches Ungarn“ hieß die Parole, die näher zu beschreiben aber niemand in der Lage war — oder sein wollte.

Bejubelt worden ist sie freilich, neben von krampfhaftem Nachholbedarf geplagten Politikern auch noch von Kirchenmännern, die sich fast ohne Ausnahme als ergebene Diener - und viele darunter auch noch als die ordinärsten Spitzel - des Kommunismus erwiesen hatten.

Wie die nächste Regierung auf die Unmündigkeit der Bürger bauen kann, zeigt auch der alles andere hinwegfegende Wahlsieg der Sozialisten, die sich dessen von Anfang an wohl bewußt waren.

Sie zogen von vornherein als absolute Sieger in den Wahlkampf, den sie auch mit den billigsten Parolen gewonnen haben: ihr dezent-resolutes Nein zu dem, „wie die es machen“, reichte vollkommen aus und ersparte ihnen auch die Veröffentlichung eines detaillierten Wirtschaftsprogrammes.

STEUERZAHLER ZUR KASSE

Bis heute heißt es da nur: Kampf der Inflation und der sozialen Ungerechtigkeit. Doch das Wie und — das nicht minder wichtige Wovon wird diskret verschwiegen.

Fest steht demgegenüber, daß die Sieger über keine Fachmannschaft verfügen; dafür aber über Beziehungen zu der Technokratenschicht — noch aus den guten alten Zeiten. Und wenn sie auch nur ein halbes Jahr - mit oder ohne die Liberalen, deren Führungsgarnitur zum größ-

ten Teil auch aus alten Genossen besteht — regieren wollen, werden sie den Pakt genauso schließen müssen, wie das die Christlich-Nationalen machten.

Zu klären wäre allerdings die finanzielle Quelle zum „Andersmachen“. Von der jetzigen Regierung erben sie dazu keinen Sonderfonds, und daß die Technokratenschicht aus plötzlicher sozialer Anwandlung heraus Mittel dafür bereitstellt, darf stark bezweifelt werden. Man wird wieder den Steuerzahler zur Kasse bitten. Die Gefahr einer „roten Restauration“ existiert freilich nur in den Köpfen kleinkarierter Wahlkampfpropagandisten der Verliererparteien. Doch die Tatsache, daß in Ungarn Demokratie auch weiterhin unter Verzicht auf Mündigkeit, Emanzipati

on und Verantwortungsfähigkeit der Bürger eingemahnt wird, dürfte auf lange Sicht auch dann gefährlich für die Rechtsstaatlichkeit werden, wenn dabei das parlamentarische System tadellos funktioniert.

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