Israel-Shopping-Mall - © Foto:APA / AFP / Jack Guez

Keine Spur Religion

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Ben Segenreich stößt sich an der Berichterstattung über die israelische Justizreform: Die Säkularisierung des Staates werde unterschätzt und der Einfluss der Ultraorthodoxen überschätzt. Eine Positionierung.

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Ben Segenreich stößt sich an der Berichterstattung über die israelische Justizreform: Die Säkularisierung des Staates werde unterschätzt und der Einfluss der Ultraorthodoxen überschätzt. Eine Positionierung.

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Israel ist ja wirklich ein exotisches Gebiet mit einer komplizierten, kuriosen Population. Viel geredet und geschrieben wird klarerweise über die Justizreform, die von der neuen rechts-religiösen Regierung zu Jahresbeginn angekündigt wurde und seither das Land aufwühlt. Manche wähnen Israel deswegen jetzt „auf dem Weg zum Gottesstaat“. In der Debatte über Israel wird – auch in ­Israel selbst – seit Jahrzehnten gewohnheitsmäßig mit Begriffen wie „Gottesstaat“, „Theokratie“, „religiöser Zwang“, „Diktat der Ultraorthodoxen“ oder „Teheranisierung“ herumgeworfen.

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Doch hier liegt ein doppeltes Missverständnis vor: Das erste betrifft spezifisch und aktuell die Justizreform. Diese hat nur am Rande etwas mit Israels strengreligiösen Juden und deren Parteien zu tun. Es geht um Grundsatzfragen des Rechtssystems, der Verfassung, der sauberen Verwaltung, der Machtbalance zwischen Parlament, Regierung und Höchstgericht. In der Substanz der vorgeschlagenen (und zum Großteil ohnehin gestoppten) Reformgesetze ist kein Gramm Religion zu finden. Mastermind und treibende Kraft des ganzen Reformprojekts ist Justizminister Yariv Levin. Dieser Herr ist zwar ziemlich starrsinnig, aber durch und durch säkular, ebenso wie sein Boss Benjamin Netanjahu, der als Premier die Letztverantwortung für das Vorhaben und dessen Folgen trägt.

Grundlose Furcht versus Realität

Auf der anderen Seite konnten sich die Strengreligiösen von einzelnen Elementen der ursprünglich geplanten Reform zwar gewisse Vorteile versprechen, aber so furchtbar wichtig ist ihnen das ganze Ding nun wirklich nicht – und sie haben sich aus der tosenden Kontroverse ziemlich herausgehalten. „Das ist keine Angelegenheit, die uns direkt betrifft“, hieß es jüngst ausdrücklich in einem umfassenden Leitartikel der Zeitung Yated Neeman, des Organs einer der im Parlament vertretenen streng-religiösen Bewegungen. Daran schloss sich ein Aufruf, angesichts der gefährlichen Spaltung auf die Fortsetzung der Reform zu verzichten: „Wir müssen das überdenken und uns fragen, ob das jeden Preis wert ist.“ Wieso also diese Justizreform, so problematisch sie sein mag, Israel auf einen „Weg zum Gottesstaat“ führen sollte, ist nicht nachzuvollziehen.

Das zweite ­Missverständnis liegt in der (weitverbreiteten) Überzeugung, die „Macht“ der Strengreligiösen in der israelischen Politik würde unaufhaltsam wachsen. Ja, viele ­Israelis fürchten sich davor, dass das Land „bald von den Strengreligiösen übernommen wird“ – aber vor dieser „baldigen“ Übernahme fürchten sie sich schon seit Jahrzehnten. Faktum ist, dass der Einfluss der Strengreligiösen auf das Leben in Israel seit Langem nicht nur nicht zunimmt, sondern sogar langsam abnimmt. Das lässt sich zunächst einmal mathematisch belegen: Zwar wächst der Bevölkerungsanteil der Streng­religiösen, weil jede Frau in diesem Sektor im Durchschnitt sieben Kinder bekommt. Aber in parlamentarisches Gewicht setzt sich das bisher nicht um. Ihr bestes Ergebnis haben die strengreligiösen Parteien 1999 mit zusammen 16,8 Prozent der Stimmen erzielt. Seither gab es schon zehn weitere Parlamentswahlen, und die Strengreligiösen dümpelten dabei zwischen 10,7 und 14,1 Prozent herum. Seit 24 Jahren ist also kein Zugewinn, sondern ein Rückgang von Mandaten zu verzeichnen.

Am Freitagabend strömen die Massen in die glitzernden Cine-Komplexe, am Schabbat klingeln die Kassen.

Das Maß aller Dinge ist aber der Lebensalltag. Mit einem „Gottesstaat“ und „religiösem Zwang“ hätten wir es dann zu tun, wenn staatliche Gesetze die Bürger und Bürgerinnen zwingen würden, religiöse Vorschriften zu befolgen, wie etwa in der Islamischen Republik Iran. Vielleicht übersehe ich etwas, aber ich fordere jede und jeden heraus, mir auch nur ein einziges Gesetz aus den letzten 20 oder 30 Jahren zu zeigen, dass den Israelis „mehr Religion“ aufgezwungen hätte. Ich kann hingegen eine lange Liste von Beispielen dafür vorlegen, dass die Religion in Israel auf dem Rückzug ist. Etwa die Kinos. Als ich vor 40 Jahren in Israel eingewandert bin, tobte ein Kulturkrieg samt heftigen Demonstrationen darum, ob Kinos in Israel am Freitagabend geöffnet sein dürfen – aus religiöser Sicht eine „Entheiligung“ des Schabbats. Diesen Kampf haben die Strengreligiösen längst verloren, aufgegeben und vergessen. An Freitagabenden strömen die Massen in die glitzernden Cine-Komplexe – und auch in Heimwerkerzentren, Drogerien und Basaren klingeln am Schabbat die Kassen.

„Gay-Pride“ in der Heiligen Stadt

Ein Beispiel war der Streit um die Sommerzeit. Weil diese ihren Gebetsstundenplan stört, hatten die Strengreligiösen zunächst durchgesetzt, dass in Israel die Sommerzeit jeweils für nur rund drei bis vier Monate galt – das war nun wirklich eine Art „religiöser Zwang“, der die Nichtreligiösen schrecklich ärgerte. Auch hier haben die Religiösen letztlich verloren – und seit 2013 stellt Israel synchron mit Europa die Uhren um. Früher war es undenkbar, dass ein israelisches Fußballnationalteam am Samstag antritt (wieder die Schabbat-Ruhe), heute kümmert das niemanden mehr.

Aufgegeben haben die Strengreligiösen auch die Versuche, die aus ihrer Sicht blasphemischen „Gay-­Pride-Paraden“ zu verhindern – die sind heutzutage in vielen israelischen Städten, sogar in der konservativen „Heiligen Stadt“ Jerusalem, eine Selbstverständlichkeit. Früher gab es in Israel nur religiöse Beerdigungen, heute kann man sich auch ohne Rabbiner begraben lassen. Die jüdischen Reformbewegungen, in den US-amerikanischen Gemeinden dominant, aber in Israel lange Zeit verachtet und inexistent, rütteln am angestammten Monopol der Orthodoxie. Frauen haben sich das grundsätzliche Recht erkämpft, bei der Klagemauer mit Gebetsschal zu beten und dabei aus der Thora zu lesen, für die Strengreligiösen eine unerträgliche Irritation. Und wenn die Wehrpflicht für strengreligiöse Männer heute ein heißes politisches Thema ist, dann ist auch das ein Indiz dafür, dass die Strengreligiösen in der Defensive sind – bis vor rund 25 Jahren stand die Freistellung der Religionsstudenten noch völlig außer Frage.

Die Liste könnte ich noch fortsetzen. Natürlich soll hier nicht behauptet werden, dass „die Religion“ auf Politik und Leben in Israel keinen Einfluss habe. Im Gegenteil, der Einfluss ist noch immer zu groß. Nachweislich falsch ist aber die Vorstellung, dass dieser Einfluss „immer stärker“ würde. Nein, er wird langsam schwächer. Und was nun die Justizreform betrifft: Die Demonstrationen haben gewirkt, die Regierung konnte bisher nur einen sehr kleinen Teil des im Jänner groß angekündigten Pakets durchbringen, und viel wird da nicht mehr nachkommen. Mit dem „Weg zu einem Gottesstaat“ ist da einfach nichts, denn die geplante Reform hat erstens nichts mit Gott zu tun und ist zweitens im Wesentlichen gescheitert.

Der Autor ist österreichisch-­israelischer Journalist und war bis 2018 Korrespondent des ORF.

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