Der nachgespürte Terror

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Der Geschichtelehrer Martin Krist arbeitet mit seinen Schülern die NS-Verstrickungen des Döblinger Gymnasiums auf. Dafür erhält die Schule den Leon-Zelman-Preis.

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Der Geschichtelehrer Martin Krist arbeitet mit seinen Schülern die NS-Verstrickungen des Döblinger Gymnasiums auf. Dafür erhält die Schule den Leon-Zelman-Preis.

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Es scheint ein Schultag wie jeder andere zu sein. Wie gewohnt treffen die Schülerinnen und Schüler zwischen acht und viertelneun ein, doch werden sie am Schuleingang separiert: Zwei Drittel dürfen in ihre Klassenzimmer gehen, ein Drittel wird in den Turnsaal gebracht und mit den Biografien der 1938 aus der Schule ausgeschlossenen Schüler konfrontiert. Später sollen die heutigen Schüler deren Geschichten der restlichen Klasse erzählen. Tatsächlich ist das im Jahr 1938 an der Döblinger AHS in der Gymnasiumstraße so ähnlich geschehen - nur war es damals kein Projekt, sondern grausame Wirklichkeit: 104 jüdische und im NS-Sinn als jüdisch geltende Schüler wurden damals vom Schulbesuch ausgeschlossen. In Gedenken an sie haben Lehrer und Schüler die Idee für die künstlerische Intervention entwickelt.

Mit Aktionen wie dieser will der Geschichte- und Deutschlehrer Martin Krist seinen Schülern einen unmittelbaren Eindruck von der NS-Zeit vermitteln. "Mir geht es nicht nur um die Darstellung der Geschichte, sondern vor allem um den Bezug zur Gegenwart. Die Schüler sollen Empathie entwickeln für Menschen, die heutzutage Opfer sind", erklärt Krist, während er mit drei seiner Maturantinnen in einer Freistunde an einem Tisch am Gang sitzt.

Hausaufgabe: Daheim nachfragen

Schon seit den 1990er-Jahren setzt er sich dafür ein, dass die Schule ihre finsteren Geschichtskapitel aufarbeitet. Mithilfe des Jewish Welcome Service begann er, den Lebensgeschichten der ausgeschlossenen Schüler nachzugehen. Einige von ihnen kehrten an ihre einstige Schule zurück, um von ihrem Schicksal als Vertriebene zu erzählen. Nun erhält die Schule für das langjährige Engagement den Leon-Zelman-Preis des Jewish Welcome Service, der die Erforschung der NS-Zeit und den Dialog mit Überlebenden und Nachkommen auszeichnet.

Außerdem gibt Krist seinen Schülern als Aufgabe mit nach Hause, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen: Sie sollen mit ihren Groß-und - falls noch vorhanden -Urgroßeltern Zeitzeugen-Interviews zur Kriegs- und Nachkriegszeit führen. "Erst dadurch habe ich von dieser ganzen Nachkriegs-Atmosphäre und dem Verdrängen erfahren", sagt die Maturantin Anja Gleich. "Ich glaube, durch solche Gespräche entsteht auch erst ein gewisses Geschichts-Interesse", ergänzt ihre Klassenkollegin Linda Pietsch. "Bevor mir mein Großvater seine Erlebnisse aus dem Krieg erzählt hat, hatte ich nur eine vage Vorstellung davon. Diese Aufgabe hat mir geholfen, meine eigene Familiengeschichte zu verstehen."

Weil viele der Großeltern nicht in Wien gelebt haben, kommen die verschiedensten Geschichten ans Tageslicht -was auch für Krist jedes Mal aufs Neue spannend ist.

Mit jeder Klasse unternimmt er zudem eine Reise in die KZ-Gedenkstätte Mauthausen. Dass die Schüler "die Todesstiege" Schritt für Schritt selbst begehen, ist ihm wichtig. "Das ist einfach ein prägendes Erlebnis, wo sie nachspüren können, wie es damals gewesen sein muss." Der Tag in Mauthausen ist den Maturantinnen noch in lebhafter Erinnerung, obwohl der Besuch vier Jahre zurückliegt. "Es war Frühlingsbeginn, ein wunderschöner Tag, und wir haben diese schrecklichen Dinge gehört. Eine groteske Situation", erinnert sich Rebeka Kruchió. "Als wir die Todesstiege hinaufgegangen sind, kamen wir auch außer Atem, obwohl wir keine Zwangsarbeit leisten mussten."

Persönliche Texte

Zur Verarbeitung lässt Krist seine Schüler Texte über ihre Eindrücke schreiben. Sie bekommen keine Textsorte vorgeschrieben, sondern können frei von der Leber schreiben. "Ich will kein Protokoll vom Mauthausen-Ausflug lesen", betont Krist. Stattdessen liest er 20 unterschiedliche und sehr gute Texte. "Alleine zu Hause darüber zu schreiben fällt ihnen auch leichter, als vor der Klasse darüber zu sprechen", weiß Krist.

Ganz generell hält der Lehrer nicht viel von konventionellem Geschichte-Unterricht: Nur mit Zahlen, Daten und Fakten zu hantieren führe automatisch zu Desinteresse. "Erstens sagt ihnen die Zahl der Ermordeten nicht wirklich etwas. Wenn sie dann auch noch die Bilder von den Leichenbergen in Mauthausen sehen, wollen sie das nachvollziehbarer Weise einfach nicht", sagt Krist. Lange meinten Pädagogen, man könne durch Schock etwas erreichen. "Aber ein Schock bewirkt ja keine Bewusstseinsänderung. Daraus lernen sie nichts", meint der Pädagoge. Erst langsam verschwinden diese erschütternden Bilder aus den heimischen Lehrbüchern.

Viel sinnvoller sei es, sich Biografien anzuschauen. So hat Krist etwa den Jugendlichen das Schicksal eines jüdischen Schülers ihrer Schule nähergebracht und ist mit ihnen dessen Lebensstationen im 19. Bezirk nachgegangen.

Auch die Besuche von Zeitzeugen sind für die Schüler besonders eindrückliche Erfahrungen. Zur Vorbereitung auf den Besuch eines Zeitzeugen, der als Kind in der NS-"Euthanasie"-Anstalt "Am Spiegelgrund" gefangen war, haben sich die Schüler die gleichnamige Dokumentation angesehen. "Wir hatten ja Fragen vorbereitet, aber als dieser Mensch dann da saß und diese schreckliche Geschichte erzählte, wusste ich anfangs nicht, was ich dazu sagen soll", erinnert sich Gleich. Nicht mehr lange gibt es die Möglichkeit, mit NS-Zeitzeugen zu sprechen. "Mir ist auch aufgefallen, dass die jüngeren Schüler bei solchen Veranstaltungen so aufmerksam sind wie sonst kaum", sagt Gleich.

Übersättigt gefühlt haben sich Krists Schüler von der intensiven Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte nicht. "Wenn Österreich es ein halbes Jahrhundert nicht geschafft hat, diese Vergangenheit aufzuarbeiten, wird es wohl ein weiteres halbes Jahrhundert dauern", meint Gleich.

Toleranz und Zivilcourage

Nach acht Jahren als Deutschund Geschichtelehrer und Klassenvorstand der 8B sieht Krist, dass seine Arbeit gefruchtet hat. Vor allem die Bedeutung des Wertes Toleranz haben seine Schülerinnen und Schüler verinnerlicht. "Mir wurde bewusst, dass kulturelle Unterschiede oft kein Problem darstellen, wenn man sie akzeptieren lernt, oder noch besser eine Wertschätzung für das andere mitbringt", betont Pietsch. Auch politische Ereignisse verfolgen die 18-Jährigen mit einem kritischeren Blick. "Auch wenn ich keiner politischen Organisation angehöre, ist es mir wichtig, mich auszukennen, um genau zu wissen, wen ich wähle", sagt Gleich.

Kruchió fragt sich selbst immer wieder, wie sie selbst während der NS-Zeit gehandelt hätte. "Da habe ich schon Zweifel, ob ich richtig reagiert hätte. Umso wichtiger ist es mir, dass ich jetzt Zivilcourage zeige. Auch wenn die jüdische Gemeinde in Österreich nicht mehr groß ist, haben wir nun andere gesellschaftliche Gruppen, die von Diskriminierung betroffen sind." Die Maturantinnen sind sich einig: "Es liegt an uns, alles zu unternehmen, damit so etwas nie wieder passiert."

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