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Die Philosophie der Jugend

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Die Bruchstücke, die ich mir von meiner Gymnasialbildung bewahrt habe, verdanke ich dem Umstand, daß ich sie erlebnisbetont aufnahm. Daher glaube ich, daß meine Schüler um so mehr lernen, je mehr ich das Erlebnis in den Mittelpunkt ihrer Erziehimg stelle.

Als meine Mädchen und Burschen auf ihre Frage nach dem Sinn des Lebens keine Antwort erhielten, obwohl sie durchwegs, wie sie sagten, „nur sympathische Menschen“ befragt hatten, waren sie enttäuscht. Bald wurde ihnen jedoch bewußt, daß die Angesprochenen bereit wären, auf jede andere Frage sogleich zu reagieren.

Mein Drängen auf die ausstehenden Antworten wurde schließlich gerügt: ich solle den Befragten gegenüber „toleranter“ sein und mich „im Warten üben“, handelte es sich doch um die „schwierigste aller Fragen“. So ging die Rede der Schüler.

Die Schüler behielten recht. Je länger ich wartete, desto mehr Antworten legten sie vor. Sechs Monate nach der Befragung zählten wir an die dreihundert schriftliche Stellungnahmen.

„Sinn des Lebens ist, zu sterben“, schrieb ein 22jähriger Architekturstudent

„Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist für mich völlig unwichtig; ich lebe, das ist eine Tatsache... Ich brauche dazu weder Berufung noch Gott noch einen bestimmten Lebensinhalt“ (15 Jahre, männlich).

„Wer beurteilt denn das Leben eines anderen? Der liebe Gott, der Nachbar, das Statistische “Zentralamt, der Bundesminister für persönliche Bereicherung und Erfüllung, oder, weiß Gott, wer sonst noch?“ (Ein französischer Soziologe, 35 Jahre).

„Für mich ist nach meiner persönlichen Auffassung die Frage ,Hat das Leben einen Sinn?' allenfalls mit einem kräftigen Ja beantwortet“ (80 Jahre, männlich).

„Verbinde dich nie mit einer anderen Rasse!“ (68 Jahre, weiblich) war auch eine Antwort!

„Sie sollen nicht streiten oder kämpfen, sondern in Ruhe und Frieden leben. Sie sollten nicht andere aus ihrem Heimatland vertreiben oder töten, sondern, wenn das Land ihnen gefällt, sollen sie hinziehen“ Ojähriges Mädchen).

„Sinn des Daseins ist, füreinander da zu sein!“ (76 Jahre, männlich).

Nachdem die Stellungnahmen hundertfach vervielfältigt worden waren und für jeden Schüler zur Einsichtnahme vorlagen, werteten wir sie nach unterschiedlichen Gesichtspunkten aus. Der angehende Maturant Wolfgang Strecha ermittelte „Liebe“ und „Toleranz“ als die von den Befragten am häufigsten genannten Zielvorstellungen. Viele seiner Mitschüler unterstrichen in den vorliegenden Stellungnahmen Sätze, mit denen sie sich identifizieren konnten; andere wählten einfach die für sie besten Stellungnahmen aus.

Zustimmung fand beispielsweise:

„Wer weit sucht, wer nur von Großem träumt, versäumt viele Gelegenheiten und kann leicht sein ganzes Leben nur in Erwartungen verbringen. Er wird unzufrieden sein und sein Dasein wird dem Mitmenschen kaum helfen.“

„In jedem Menschen findet man etwas, das es wert ist, daß man sich mit ihm beschäftigt.“

„Gerne mache ich Freude, denn die Freude, die man schenkt, kommt wieder ins eigene Herz zurück.“

Eine Auswertung der von den Schülerinnen und Schülern bevorzugten Stellungnahmen ergab, daß 1. verstärkte mitmenschliche Beziehungen, 2. ein besseres Erkennen der persönlichen Eigenart und 3. mehr Liebe von der Jugend als vordringT lieh notwendig erachtet werden.

Läuft nun der Jugendliche, der sich gelegentlich fragt, ob er noch im Begriffe ist, diese drei Ziele zu verwirklichen, Gefahr, manipuliert oder zum Schablonenmenschen zu werden?

Wir diskutierten unser „Risiko“ mit Politikern, Künstlern, Theologen und Pädagogen. Dazu ein kurzer Auszug aus einem Gesprächsprotokoll:

W. Strecha: „Ich habe in einem Gespräch erfahren, daß jemand meinte, unser Projekt gehe möglicherweise auf Manipulation hinaus.“ 1

Bundespräsident Rudolf Kirchschläger: „Ich glaube, daß man sich gerade in dem Alter, in dem Sie sind, von einem Lehrer kaum manipulieren läßt, weü man zu unabhängig und zu selbständig ist. Und wenn wir an Stelle des Wortes .Manipulation' das Wort .Einflußnahme' nennen, in dem Sinne, daß wir letzten Endes alle miteinander verpflichtet sind (wenn wir nicht dem Tiere gleich leben wollen), uns nach dem Sinn des Lebens, nach dem Erfülltsein des Lebens zu fragen, dann muß ich sagen, dann nehme ich diese Manipulation-Einflußnahme für mich gerne in Kauf und würde sie auch für meine Kinder gerne in Kauf nehmen.“

Wenn eine beabsichtigte Verstärkung der mitmenschlichen Beziehungen, ein besseres Erkennen der persönlichen Eigenart und mehr Liebe über bloßes Wunschdenken hinausführen sollen, so gilt es im nämlichen Sinne auch zu handeln.

Eine erfreuliche Realisierung dieses Erfordernisses gelang der Möd-linger Lehrer-Studentin Notburga Bammer in Zusammenarbeit mit den Schülerinnen einer Oberstufenklasse. Diese angehende Religionslehrerin versuchte, den 16jährigen Mädchen den Sinn des Fastens bewußt zu machen. Auf lange Sicht lebt ja doch derjenige sein Leben unerfüllt, der.es in Saus und Braus verbringt.

Worauf die Schülerinnen, wenigstens zwischendurch einmal,. verzichten möchten, das hat die Lehrerin mit ihnen gleich dargestellt. So entstand in beispielhafter, freiwilliger und vor allem in schöpferischer Zusammenarbeit ein Fastentuch, das jetzt den Stiegenaufgang des neuen Mödlinger Gymnasiums ziert. An dieses Fastentuch werden sich die Schülerinnen der 6b-Klasse vielleicht noch als Großmütter erinnern.

(Der Autor unterrichtet am Knaben- und Mädchengymnasium Mödling Philosophische Einführung und Bildnerische Erziehung)

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