7093452-1994_38_06.jpg
Digital In Arbeit

Konzentriert sich Europa wirklich nur auf Wirtschaftserfolg?

Werbung
Werbung
Werbung

Die europäische Wertediskussion ist ein vielversprechendes Phänomen. Die Werteordnung ist die Gretchenfrage an jedes gesellschaftliche Tun. Daß die Sollensordnung noch vielfach unklare Konturen hat, liegt, in ihrer Natur, daß jedoch auch die Diagnose des Status quo, den es zu ändern gilt, auf so unsicheren Beinen steht, das ist schlimm.

Der stellvertretende Chefredakteur dieses Blattes hat einen Patienten der Wertetherapie, „die Gesellschaft des freien Westens“ kürzlich (DIEFURCHE 35/1994) sehr präzise beschrieben: Sie sei „eine offenkundig vom Konkurrenzkampf zerfressene, entsolidarisierte, auf Gewinnmaximierung abgestellte Gesellschaft“. Und „gar nicht merkwürdigerweise“ sei dieser Individualismus auch ihr gemeinsamer Nenner mit der heilte atomisierten Sowiettre- sellschaft“. Wenn angenommen werden kann, daß sich der Autor der Sprache seiner Leser als Verständigungsmittel bedient, die wir in unseren Schulen gelernt haben, ist es doch wohl erlaubt, diese Aussagen zu verstehen, wie sie zu lesen sind.

FALSCHE WEICHENSTELLUNG

Ist das wirklich eine „konkurrenzkampfzerfressene Gesellschaft“, die sich offenbar selbst durch Kartellbildung dagegen zu wehren sucht und gleichzeitig „sich selbst“ durch Beseitigung von Importschranken zum Wettbewerb zwingen will und in welcher gleichzeitig über Leistungsund Verantwortungsscheu und über Beamtenmentalität geklagt wird?

Ist das wirklich eine „entsolidarisierte“ Gesellschaft, die zu freiwilligen, das heißt durch selbstgewählte Organe festgelegten Steuer- und Abgabenquoten von bis zu 40 Prozent des Sozialnroduktes und zu Sozialquoten von fast 30 Prozent aller öffentlichen Haushalte bereit ist und sich die Kritik auf Effektivität, Finanzierbarkeit und auf eine Reduzierung um wenige Prozentpunkte beschränkt?

Ist eine Gesellschaft wirklich „entsolidarisiert“, in welcher erstaunlich viele Menschen bereit sind, zusätzlich auch noch freiwillig weitere Einkommensverzichte zugunsten Bedürftiger auf sich zu nehmen, die auf weitere drei bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts geschätzt werden?

Wie kann eine Gesellschaft überhaupt „auf Gewinnmaximierung abgestellt“ sein? Das kann doch wohl nur der einzelne, aber auch dieser nicht unbeschränkt. Die „Gesellschaft“ (das heißt geeignete Institutionen) setzt ihm sehr drastische Schranken: durch das Wettbewerbssystem, durch die beteiligten Partner aller Art, nicht zuletzt auch durch den Staat im Wege der Besteuerung.

Der Autor verteidigt sich mit dem Eindruck, den er als allgemeine Grundhaltung zweier prominenter Veranstaltungen gewonnen hat, über die er berichtete. Er findet sich damit auch tatsächlich in guter Gesellschaft. Und das ist es, was nach einer dringenden Warnung vor einer falschen Weichenstellung ruft!

Kann aufgrund einer derart karikierenden Diagnose wirklich eine fruchtbare Wertediskussion erwartet werden?

ALTERNATIVE ZUR TRISTEN WELT

Kann man dann andere als hilflose Ratschläge erwarten, wie „von Grund auf alles ganz anders zu machen“ oder nach „neuen Utopien“ zu rufen, die „derzeit allein in der Kirche und ihrer Botschaft vom Reiche Gottes zu erahnen sind“ als „einzige Alternative zur tristen, banalen und alles beherrschenden ökonomischen Welt“ wie kürzlich selbst ein angesehener Befreiungstheologe?

Die Abstraktion „Gesellschaft“ kann nur als jeweils konkrete Institution handeln: als Staat das Sozialprodukt „maximieren“, für dessen gerechtere Verteilung, für Bildungschancen und hohen Beschäftigungsgrad besorgt sein; als Sozialpartner für sozialen Frieden als christliche Kirchen um Lebenssinnfindung bemüht sein, als nationale oder internationale Organisationen Wege suchen, die Menschenrechte auch innerhalb anderer souveräner Staaten durchzusetzen.

Ist das - alles zusammengenommen ~ wirklich ein Europa, das sich nur auf wirtschaftlichen Erfolg konzentriert?

Sind nicht auch viele Werte, um die sich Institutionen in Europa bemühen, Werte, die auch auf christlich motivierten Werteskalen ihren Platz haben müssen? Und sind selbst materielle Werte prinzipiell unchristlich?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung