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Untergrund 1960

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Der Durchbruch des Nationalsozialismus war in Deutschland noch mehr als in Österreich der Anzeiger sozialer und wirtschaftlicher Notstände gewesen. Eine Analyse der Lebensläufe der Mehrheit der nationalsozialistischen Führer läßt erkennen, daß sie Deklassierte waren, Männer, die aus Interessen Ideen machten und sich schließlich jenen Prinzipien verschrieben, deren Realisierung auf politischer Ebene ihnen wirtschaftliche Sicherung und Erfüllung ihrer Prestigesehnsüchte versprach. Die Ansätze zum unblutigen Aufstand des Nationalsozialismus von 1933 waren schon in den Ereignissen von 1918 zugrunde gelegt.

Auch in den Geschehnissen von 1945 war ein bedenklicher Krisenherd angesetzt worden. Politische Entmachtung, sozialwirtschaftliche Herabsetzung in Stand und Einkommen und die ungleichmäßig verteilte Teilnahme an den neuen Wohlfahrtschancen lassen einen neuen Untergrund entstehen, in dem sich — auch in Österreich — wieder aus Interessen Ideen zu bilden beginnen.

Fünfzehn Jahre nach 1918 wurden in Deutschland die Fahnen der Demokratie eingeholt. Fünfzehn Jahre nach 1945 sind die Fahnen der Demokratie weder in Deutschland eingeholt noch sind sie auf halbmast. Diese Tatsache könnte vermuten lassen, daß es bei uns und in der Bundesrepublik um die Demokratie bestens bestellt sei. Wer das annimmt, täuscht sich.

Die Prosperität in Österreich, steil nach 1951 ansteigend, ein Aufstieg scheinbar ohne Ende, überdeckt das Begehren der Deklassierten, vor allem, weil sie diesmal an Zahl gering sind und nicht mehr in gleicher Weise wie einst von der Großindustrie in einem makabren Doppelspiel gefördert werden.

Die Deklassierten heute sind vor allem die Geschädigten aller Kategorien:

• die im Krieg Geschädigten, die Bombenopfer vor allem,

• die durch den Kriegsausgang Geschädigten, ganz, besonders die punme.hr£iviL tätigen Berufssoldaten, Parteibeamte und entlassene öffentlich Bedienstete,

• alle aus irgendwelchen besonderen politischen Gründen Depossedierten und

• manche hohe Offiziere des Bundesheeres, die das österreichische Heer als eine „schwarze Reichswehr“ betrachten und dementsprechend führen.

Sie alle, die ein geheimnisvolles Band eint, nackte ökonomische Interessen, emotional bestimmte Beziehungen zum NS-Regime, das für sie eine Summe von wirtschaftlichen und sozialen Chancen darstellte, sind der Ansatz für eine neue „Bewegung“, die sich freilich derzeit nur in gewerkschaftsähnlichen Gruppen darzustellen vermag. Geschädigte und Marschierer der Zeit von 1938 bis 1945 sind aber bereit, sich als ein uniformer Block in Marsch zu setzen, wenn ihre Stunde da ist: die Krise. Wir leben zu sehr im Bewußtsein einer bleibenden Absenz der Krise, ja auch nur einer Rückbildung, und übersehen, daß lediglich die Vollbeschäftigung, die Fülle der Konsumchancen auch solche, die sich als geschädigt betrachten, noch daran hindert, für 1945 Rache zu nehmen.

Das Gefühl der „Zinsknechtschaft“ aber lebt noch im Kontaktbereich der stillen und lauten Gegner des Regimes. Die „Ausbeuter“ sind diesmal nicht die „Juden“, nicht das „internationale Kapital“, die Banken, wohl aber sind es die „Systempolitiker“ von 1960: die Koalition, das austropolitische Mehrparteiensystem, der Proporz, die l:l-Formel der Zusammenarbeit, welche „Dritte“ vorweg von jeder Mitarbeit und von der Gewinnung sozialer und wirtschaftlicher Positionen ausschließt (wie es fälschlich scheint).

Schließlich sind die „Juden“ von 1945 die öffentlich-rechtlichen Verbände, die Quasibehörden, die kollegial die Wirtschaft zu beherrschen und Einkommen nach Gutdünken zu verteilen scheinen.

Noch haben die „Geschädigten“ und die tatsächlich Geschädigten kein Gemeinsames als den Willen: die Parteien der Koalition müssen wegl Ihre gemeinsame politische Gesinnung dokumentiert sich lediglich im Anderssein gegenüber den Anhängern der Koalition, die mehrheitlich ja nur Anhänger der Erfolge der Koalition, also schließlich auch nur Interessenten und nicht „Gläubige“ sind. Das Anderssein wird durch einen Verweis auf Überparteilichkeit, wenn nicht Unpolitischsein ausgewiesen und durch ein nachdrückliches Bekenntnis zu den beiden Oppositionsparteien von ganz rechts und ganz links, die sich um die Geschädigten interessanterweise mit genau den gleichen Argumenten bemühen. Eine gemeinsame politische, wenn nicht weltanschauliche Haltung ist dagegen nicht feststellbar. Das war auch bei den Männern, die nach 1919 die NSDAP errichteten, nicht der Fall gewesen. Eine Weltanschauung wird am Tage X ohnedies nachgeliefert, wenn auch nur als eine Summe von Gedankenfetzen, interpretiert von schrecklichen Vereinfachein, die bisher mangels ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache nicht zum Zuge kommen konnten.

Man weiß in den Kanzleien der Regierungsparteien vom Bestand eines politischen Untergrundes, glaubt aber, daß der allgemeine Wohlstand die bestehende Unzufriedenheit überkompensieren werde. Vor Wahlen versucht man vorsorglich die Unzufriedenen durch Konzessionen zu gewinnen.

Alle grotesken Verbeugungen in der entgegengesetzten Richtung können aber das Bestehen einer Wohlfahrtsopposition nicht aufheben. Wenn wir ein 1933 bzw. ein 1938 vermeiden wollen, tut not, daß man den tatsächlichen oder eingebildeten Opfern der Ereignisse um 1945 das Gefühl des Ausgestoßenseins nimmt und den emotional oder durch Not begründeten Untergrund — die Möglichkeit einer neuerlichen Sumpfzeugung von sogenannten Ideen — ausräumt.

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