Identität ohne Ausgrenzung

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Mit der Europäischen Union verbindet sich die Hoffnung auf eine europäische Identität ihrer Bürger, die für ihre Selbstsicherheit nicht mehr den | Nationalismus ihrer Staaten notwendig haben sollten. Soll das gelingen, braucht es starke Ideen und Konzepte, eine tolerante Gesellschaft.

Schillers Ode "An die Freude“ beschreibt pathetisch das Ideal einer Gesellschaft gleicher Menschen. Die Europäische Union hat als ihre Hymne eine Instrumentalversion von Beethovens Vertonung der Ode gewählt. Noch nicht einmal auf den abstrakten Text Schillers hat sich die EU einigen können. Das ist vielleicht sogar ein Glücksfall, denn über die Beschaffenheit, den Charakter und die Identität der Europäischen Union kann die Ode ohnehin wenig aussagen. Letztendlich gibt es geeignetere Texte, die Europa zutreffender beschreiben.

Konkreter als Friedrich Schiller stellt sich zum Beispiel der in Berlin und Paris lebende kanadische Musiker Gonzales Europa vor:

" I am gay pastry and racist cappuccino / I’m an army on holiday in a guillotine museum / I’m a novel far too long. I’m a sentimental song / Who am I? / I am Europe.“

(Gonzales - I am Europe)

Was ist Europa? Oder vielmehr: Was kann und will Europa sein? Oft wird bei der Suche nach einer europäischen Identität in Inklusions- und Exklusionsparameter unterschieden. So fragt man sich, wo Europa geografisch, religiös, oder kulturell endet. Die Abgrenzung einer "Ingroup“ und einer "Outgroup“ wird dabei wieder eine der zentralen Leistungen von kollektiven Identitäten. Staaten die sich im 20. Jahrhundert noch an den Rande der Vernichtung brachten, weil sie dachten, so unterschiedlich zu sein, dass sie verschiedenen Rassen angehören, suchen also jetzt nach gemeinsamen Eigenschaften, um sich geschlossen wiederum gegenüber Dritten abgrenzen. Dass sich dabei so ohne Weiteres keine für alle objektiv verbindliche Wahrheit definieren lässt, kann eigentlich nicht verwundern.

Identität als Garant für Einigkeit

Auf die Frage, was Europa ausmacht und wer aus welchen Gründen eventuell der EU beitreten darf, gibt es offenbar keine einfachen Antworten. Europa ist eine Vielzahl von Ambivalenzen, oder wie der geneigte kanadische Migrant Gonzales sagen würde: "a movie with no plot, written in the back seat of a piss powered taxi.“

Auch ohne gemeinsame Identität bietet die EU für ihre Bürger noch genügend lohnende Anreize, wie Mobilität, Freizügigkeit, etc. Doch Europäer zu sein kann nicht auf Dauer und für jede Generation aufs Neue eine rational getroffene Entscheidung sein. Es ist schlicht das Risiko zu hoch, dass sich zu jedem Zeitpunkt die Mehrheiten in den Nationalstaaten gegen Europa entscheiden könnten. Selbst falls die EU stets jedem Mitgliedstaat deutlich mehr Nutzen bringen kann, als sie Zugeständnisse verlangt, könnte sich mit jeder neuen nationalistischen Debatte in einem der Mitgliedsländer das Kosten-Nutzen-Bewusstsein der Mehrheiten verschieben. Kollektive Rationalität gerät schnell an Grenzen, - falls es so etwas überhaupt gibt. Eine europäische Identität, für die Europäer im Zweifel auch zu persönlichen Opfern bereit wären, ist auf lange Sicht die einzige Garantie für den europäischen Einigungsprozess.

Jugend braucht die Loyalität der Gesellschaft

Es ist erstaunlich, was hierbei Kulturprodukte wie der provokative Text Gonzales’ für fruchtbare Ansätze bieten könnte. Gonzales legt vor allem den Schluss nahe, sich als Europäer zu fühlen müsse auch ein kulturelles und ästhetisches Selbstverständnis werden. Dies gilt besonders dann, wenn eine europäische Identität nicht wieder auf denselben simplen Mechanismen beruhen soll wie ehedem nationale Identitäten.

Eine zukünftige europäische Identität hätte dann die große Chance, offener zu sein als die bisherigen nationalen Identitäten, indem sie sich eben nicht mehr nur über Außenabgrenzung definiert. Sie könnte weniger Diskriminierung und Ausschlüsse bedingen, als es nationale Identitäten noch taten und damit mehr für eine offene Gesellschaft leisten, als es zum Beispiel Antidiskriminierungsgesetze tun.

Das Wesen von Gesetzgebung ist es, den normabweichende Einzelfall zu sanktionieren. Dafür, dass Diskriminierungsfreiheit aber überhaupt erst zur Norm wird, können sie nicht sorgen, dafür sorgen letztendlich die Normen des eigenen Selbstbildes, die Beschaffenheit der eigenen Identität.

Ähnliche Grenzen wie für Gesetze als Antidiskriminierungsmaßnahme, lassen sind auch für die anonymisierten Bewerbungsverfahren, welche in Deutschland seit Kurzem bei Telekom und Post gelten, feststellen. Bewerbungen sollen dort nun keine Fotos, Alters-, oder Geschlechtsangaben mehr enthalten. Es geht nur noch um die schicksten Lebensläufe. Nur wie kommt man an solche Lebensläufe? Der erste Schritt ist, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben und dann akzeptable Studienbedingungen vorzufinden. Diejenigen die es am Ende wagen können, sich auf eine qualifizierte Stelle zu bewerben, haben den Sprung ohnehin schon geschafft. Es ist natürlich löblich, dass sich große deutsche Konzerne gegen Diskriminierung aussprechen, die unterstreicht aber eigentlich auch nur, dass es für Arbeitgeber schon rational selbstverständlich sein sollte, sich keine Vorteile von einer rassistischen Auswahl der Mitarbeiter zu erhoffen. Vermutlich sollte man aber am anderen Ende der Verwertungskette von Lebensläufen ansetzen und zunächst einmal jedem die gleichen Chancen zu einem Lebenslauf ermöglichen.

Wenn sich junge Deutsche, Briten und Franzosen als in der EU angekommen fühlen wollen, dann müssen sie an die Loyalität ihrer Gesellschaft glauben können, egal ob sie Mann, Frau, Schwarz, Gelb, oder Grün sind. Wenn die nächste Generation durch Verschuldung und fehlende Investitionen in Bildung gleich mehrfach ihrer Chancen beraubt wird, ist das ein Problem für eine gemeinsame Identität und für einen aufgeklärten Umgang miteinander.

Emotionen durch gemeinsame Narrative

Diskriminierung und Identität sind nichtssagende Begriffe. Diskriminieren findet niemand gut. Und wer diskriminiert, für den ist es keine Diskriminierung, sondern notwendige Abgrenzung. Darüber, was zur Sicherung der eigenen Identität, für den Einzelnen oder für ein Kollektiv notwendig ist, lässt sich vortrefflich streiten. Identität dient zur Selbstversicherung, schafft Zusammenhalt und Abgrenzung. Am Ende bedingt eine auf Akzeptanz und Toleranz gründende kollektive Identität eine tolerante und stabile Gesellschaft, dafür braucht es mächtigere Ideen und Konzepte, aber auch aussagekräftige Kulturprodukte, die alle Europäer teilen können.

Erst als Lebensgefühl bekommen abstrakte Begriffe wie Identität eine Bedeutung. Entwickelt und geteilt werden solche Emotionen im Kollektiv über gemeinsame Narrative und Kulturprodukte. Darum ist heute Gonzales’ ‚I am Europe‘ im Ansatz eine bessere Antwort auf die Fragen einer neuen europäischen Identität als Schillers Ode an die Freude.

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