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Der Sieg des Technokraten

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Von der Waterloo-Bridge über die Themse sind es nur fünf Minuten zu Fuß bis zum Transport-House, dem Sitz der Labour Party. Die Waterloo-Bridge erinnert England an einen seiner bedeutendsten Siege — an den legendären 18. Juni 1815. An den 18. Juni 1970 hingegen wird sich die Arbeiterpartei und ihr Führer Harold Wilson noch lange erinnern: an diesem Tag hat eine bereits vorher totgesagte Opposition soviel Stimmenprozente erringen können, wie faktisch keine andere Partei vorher bei einem Regierungswechsel in Großbritannien.

Wilson hat, nachdem er 1964 erstmals und 1966 zum zweitenmal angetreten war, England die Hoffnung gegeben, eine neue Ära zu gestalten. Und am Ende seiner Amtszeit ist Wilson zum Symbol der Stagnation, der Immobilität und eines fast schon reaktionären Konservativismus auf fast allen Gebieten des politischen Lebens geworden.

Aber ein optimistischer Beraterstab und falsche Meinungsforschungsergebnisse trieben den pfeiferauchenden Premier in das Abenteuer pro-vozierter Neuwahlen, die er mit nichts außer dem Argument führte, daß Englands Zahlungsbilanz wieder aktiv sei. Und bei dieser Konzeption sind die englischen Wähler dem als überschlau gelobten Premier nicht gefolgt: es war längstens nach den ersten blauen Flugzetteln der Konservativen jedem einigermaßen gebildeten Wähler bekannt, daß Englands Preissteigerungen die höchsten Europas waren, daß das Wirtschaftswachstum von fast jedem vergleichbaren Land der Welt übertroffen wurde, daß die Arbeitslosigkeit den höchsten Stand seit den dreißiger Jahren erreicht hatte und daß die Auslandsverschuldung die horrende Höhe von umgerechnet 180 Milliarden Schilling erreicht hatte. Und jeder. Brite konnte sich wieder erinnern, daß das Pfund — Statussymbol englischer Geltung — unter Wilsons Regierung abgewertet wurde und möglicherweise neuerlich in einer nahenden Depressionsphase abgewertet werden könnte. Der Wähler hat einmal mehr in England bewiesen, daß er — wenn auch nur (intuitiv — die Lüge in der Politik durchschaut. Und Wilsons „Now-

Britain-is-strong-again“-Parole („Nun ist England wieder stark“) war eine Lüge.

Denn Großbritannien steht heute reicht allein am Vorabend einer neuen wirtschaftlichen Krise (siehe „Furche“ Nr. 25), sondern muß nun auch unter Edward Heath erst wieder die Scherben einer immobilen Außenpolitik beiseiteräumen. In den letzten Jahren hat England

• kein Arrangement mit der EWG finden können, keine entscheidenden Maßnahmen zur Stärkung der EFTA unternommen und hingenommen, daß auf der Insel ein antieuropäischer Isolationismus entstand, der nur schwer wieder abzubauen sein wird;

• eine der treuesten Kolonien — nämlich Rhodesien — verloren, sich selbst dabei aber keine Verdienste bei den farbigen Afrikanern einhandeln können, die die Boykottmaßnahmen als lau und unwirksam empfanden;

• Jordanien auch in den schwersten Stunden des kämpfenden Israels Waffen und militärisches Gerät verkauft, ohne sich damit bei den Arabern vom Vorwurf des „Imperialismus“ freikaufen zu können oder eine Machtposition im Spiel um den Nahen Osten zu erhalten;

• in Biafra Handlangerdienste zur Ausrottung von tausenden Menschen geleistet, die noch am Leben wären, wenn sie nicht durch britische Bordwaffen und britische Bomben umgekommen wären.

Die Wahl des 18. Juni 1970 war eine Wahl gegen Wilson — und keine Wahl für Heath. Denn der neue Premier kann ein Vorschußvertrauen entgegennehmen, daß auch nicht annähernd durch Konzept oder Geschlossenheit der konservativen Partei gerechtfertigt erscheint. Der englische Wähler hat Wilson den Abschied gegeben, aber damit noch nicht gesagt, daß die Partei der Tories die beste aller Parteien ist. Und das muß man sich am Smith-Square, dem Parteiquartier der Konservativen, die nur allzu leicht zur Hochmütigkeit und Arroganz neigen, deutlich vor Augen halten. Denn die Bewährung der neuen Regierung in Zeiten des Sturms steht noch aus.

Immerhin muß die Regierung schon am 30. Juni nach Luxemburg, um zu sagen, was England will — und zu hören, was die EWG-Partner über einen Beitritt denken. Man kann annehmen, daß der „europäische“ Konservative Heath bei den diversen Lobbies diesseits des Kanals mehr Sympathien erwarten kann.

Heath — und daran besteht kein Zweifel, wird England wieder enger an den Westen binden. Das bedeutet konkret ein stärkeres Engagement in der NATO, das heißt Stationierung britischer Truppen in Deutschland, das heißt feste Verhandlungsposition in Berlin und schließlich eine stärkere Unterstützung der amerikanischen Ostasienpolitik. Heath will — so hat er im Wahlkampf angedeutet — eine Art neues Schutzbündnis östlich von Suez aufbauen, an dem sich Australien und Neuseeland, Thailand, Malaysia und Singapur beteiligen sollen.

Heath selbst freilich wird hart kämpfen müssen: nicht nur gegen links in Fragen der Wirtschafts- und Außenpolitik, sondern auch gegen rechts, wo ein harter Kern erstarkter Altkonservativer steht, der spätestens seit dem 18. Juni in Enoch Powell einen Führer hat. Heath, der kalte Technokrat, hat allerdings keinen Grund, seinen erkämpften Sieg zu teilen. Die Tories haben trotz Powell gewonnen — nicht wegen des Rebellen aus Wolverhampton.

Heath und seine siegreiche Mannschaft haben aber auch den Rechtsparteien in Europa wieder starken Auftrieb gegeben. Sie haben den Konservativen und Christlichen Demokraten auf dem Kontinent gezeigt, daß man auch ohne spektakulären Führer aus der Opposition heraus siegen kann. Denn insgeheim ziehen Beobachter nicht zu Unrecht Vergleiche zwischen dem Technokraten Heath und dem Technokraten Barzel in Deutschland, der mit der CDU auf seine Stunde wartet (und sogar mit Withalm, der seine ÖVP-Mannschaft in der Opposition formiert).

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