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Kein Tag wie andere

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Über Bedeutung, historische Voraussetzungen und Gegenwartsaspekte des 1, Mai wurden schon sehr viele Worte gewechselt. In Kreisen der Sozialistischen Partei selbst, die im Grunde genommen alleinige Hüterin der Tradition des 1. Mai ist, ist bekanntlich schon seit einiger Zeit eine zwar gedämpfte, aber sich beharrlich fortspinnende Diskussion im Gange, und es wäre falsch, deren natürlichen Ablauf durch noch so wohlgemeinte, aber eben von außen herangetragene Ratschläge zu stören. Was trotzdem Not tut, ist etwas anderes: die kritische Prüfung dessen, was an diesem Tag geschieht, der doch für Sozialisten wie NichtSozialisten kein Tag wie alle anderen sein dürfte.

Die Frage, ob mit dem Pathos des „großen Sonntags“ der einstigen Sozialdemokratie irgendwer heute noch erreicht werden soll, steht wohl nicht mehr zur Debatte. Im Jahre 1893 sagte Dr. Victor Adler: „Die Maifeier ist nicht bloß eine sozialdemokratische Feier, sie ist eine proletarische, eine Klassenfeier ... und das beste Mittel zur Aufwühlung des Proletariats.“ Heute hingegen stehen nebst der auch anderwärts üblichen Lehrformel „Jahr der jungen Generation 1962“ nur noch die schlichten Worte „Freiheit“ und „Demokratie“ auf dem roten Plakat, das den 1. Mai ankündigt. Also muß gerechter Weise die Wachsamkeit, die jedem in der Demokratie ausnahmslos als Pflicht auferlegt ist, der Frage gelten, ob Freiheit und Demokratie geeignet sind, an diesem Tag als Losungsworte vorangetragen zu werden und ob sie, umgekehrt, nicht für etwas herhalten müssen, was sie am Ende, ob man will oder nicht, zwangsläufig aufhebt.

Das historische Beiwerk tut da nichts zur Sache. Es ist selbstverständlich, daß das Wort „Proletarier“ im Laufe der Jahrzehnte aus einer revolutionären und revolutionierenden Parole zuerst zu einem — auch als ein solches empfundenen — Schimpfwort geworden ist; heute ist es so gut wie vergessen. „Eine Klassenfeier...“: auch dieses Wort zieht nicht mehr. Es ist längst offenkundig geworden, daß die Zweiteilung der menschlichen Gesellschaft in die der einander feindlich gegenüberstehenden Klassen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten der von der marxistischen Dogmatik freien Prüfung nicht standhält, weil im Zuge eines von Marx nicht vorhergesehenen Strukturwandels innerhalb der modernen Industriegesellschaft eine Mittelschicht emporzuwachsen begann, die Schicht eines neuen Mittelstandes, bestehend aus Angestellten und Beamten verschiedener Kategorien, aber durchweg ohne ein „Klassenbewußtsein“, wie es gläubige Marxisten noch gerne gesehen hätten. Die konstante Hebung der Reallöhne und die ebenfalls unvermeidlich sich fortentwickelnden Differenzierungen innerhalb der sogenannten Arbeiterklasse je nach Qualität und Wichtigkeit der hochmechanisierten, geistige Präsenz verlangenden Arbeit tat ein übriges. Bedeutet das, daß die Gesellschaft ohne Spannungen ist? Keineswegs. Niemand leugnet das Vorhandensein von Gruppenkonflikten, ob schwächerer oder stärkerer Natur. Ihre Beilegung kann zum schweren Problem innerhalb des politischen Mechanismus der rechtsstaatlichen Demokratie werden. Dieser Mechanismus ist aber im Lauf der Zeit vielfältig und feinmaschig genug geworden, um die Konflikte zwischen den Herrschenden und den Beherrschten auf alle Fälle noch vor Eintritt einer Explosion zu schlichten oder zumindest offenkundig und diskussionsreif zu machen — also zu regeln.

Hier drängt sich allerdings eine weitere Frage auf: wer sind die Herrschenden und wer die Beherrschten? Nur wenn man das jeweils objektiv prüft und feststellt, ist die Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit der Freiheit hier und heute möglich. Mit Vergleichen aus dem großen Reservoir der Geschichte ist der Klärung dieser Zusammenhänge nicht gedient. Kostüme und Grenzsituationen, die niemals dort zurückkehren, wo man sie erwartet, können den Blick rmr verwirren.

Über Macht oder Ohnmacht entscheidet in der rechtsstaatlichen Demokratie allein der Stimmzettel. Die In-

stitutionen schaffen noch keine Frei heit, sie können aber darüber wachen daß der einzelne seine Freiheit ver wirklichen kann. Nicht die Freihei also, sondern nur die ihr vorausgehen den Spielregeln werden durch die Ver fassung, die parlamentarischen un< sonstigen Vertretungen und Institutio nen gesichert. Für eine „Macht de Straße“, die, wenn auch nur andeu tungsweise durch die Macht der Re tniniszenz nach Einschüchterungs- un< Erpressungsversuch aussieht, ist di ebensowenig Platz wie für andere Ein bruchsversuche plebiszitärer Art. De -nokratie: das heißt eben weg von de Straße, hinein in die Sitzungssäle, ii die Ausschüsse, wo die notwendigei

Regeln des Zusammenlebens in dei pluralistischen Gesellschaft ausgehandelt werden müssen.

Freiheit und Demokratie, in die Weh der Arbeit hineinprojiziert, gewinner noch zusätzlich an konkretem Gehalt Mancher Arbeiter, dem da und don noch — wie Bischof Dr. Paul Rusch ir einer aufsehenerregenden Analyse so-eben feststellt — im Betrieb in der Gesprächspause durch Arbeitskollegen de; „Pfaffenspiegel“, der „Mythos des 20. Jahrhunderts“ und kommunistisch&#171; Schriften in bunter Folge vorgeleser werden, wird sich nicht immer klai auskennen. Der Wiener Arzt, dei heute seine Freiheit, das heißt die Voraussetzungen seiner beruflichen Entfaltung gegenüber dem anonymen Apparat einer zu eminent wichtigen sozialen Zwecken geschaffenen Institutior paradoxerweiser verteidigen muß, ahm von der Komplexität des Gegensatzpaares Beherrschter—Beherrscher schor einiges. Er müßte sich, laut Marx, ent-

scheiden: gehört er zu den Ausbeutern oder zu den Ausgebeuteten? Wie wird er sich, hier und jetzt, entscheiden? Sind die Voraussetzungen dafür überhaupt gegeben?

Solange das und noch vieles andere nicht geklärt ist, bleiben die Transparente, die im Festzug am 1. Mai den Marschkolonnen vorangetragen werden, „in der Luft hängen“. Und es könnte dann sein — es wäre nicht zum ersten Male in der Geschichte — daß die Marschierenden in eine falsche Richtung marschieren und daß die Beobachtungsposten voller Argwohn den Feind von Gestern oder Vorgestern beobachten. Es wäre schade um diesen Tag, der, als Tag der Solidarität aller Unterdrückten und ungerecht Behandelten, vom Schicksal oder von den Mächten der Welt Benachteiligten, auch heute noch sehr vielen Menschen viel zu sagen hat.

Die Freiheit war einst als Postulat im historischen Streit zwischen Liberalismus und Sozialismus als die Freiheit der Wenigen auf Kosten der Vielen hingestellt worden. Die grundsätzliche Gleichheit aller Staatsbürger von heute schützt diese jedoch noch immer nicht vor drastischen Einschränkungen ihrer Freiheit. Der Freiheitsberaubung durch den Staat und durch gewisse Institutionen und anonyme Mächte sind neue, früher nicht geahnte Möglichkeiten geöffnet worden. Dem Arbeiter, diesem heute noch, trotz Soziologie, Psychologie und anderer Wissenschaften und experimenteller Forschungen, ziemlich unbekannten Wesen, steht in dieser Situation der Nachkomme jener Akademiker an der Seite, die, laut zeitgenössischer Zeitungsberichte, einst, wenige Tage vor dem ominösen, gefürchteten 1. Mai, vor dem ersten Maiaufmarsch im Jahr 1890, eine wissenschaftliche Exkursion“ absagten, „weil man doch am 1. Mai Weib und Kind nicht im Stich lassen konnte ...“ Arbeiter, Intellektuelle und mit ihnen alle Glieder einer pluralistischen Gesellschaft müssen jedoch wissen, daß ihre Freiheit letztlich niemals durch Errungenschaften und Institutionen, sondern nur durch sie selbst gesichert werden kann. Die in ihren Formen vielleicht da und dort überholte Demonstration der wahren oder vermeintlichen Stärke einer nur mehr in histo|-rischen Reminiszenzen existierenden Arbeiterklasse dürfte niemand über das tatsächliche, das eigentliche Gefährdetsein des Menschen von heute hinwegtäuschen. Diese Sorge müßte eigentlich die noch so achtbaren, „legitimen“ Aspekte parteipolitischer Natur an diesem Tag in den Hintergrund drängen. Daß der Prozeß des Selbstverständnisses gerade angesichts des 1. Mai noch nicht abgeschlossen erscheint, ist ein Umstand, der zu Hoffnungen Anlaß gibt.

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