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Vor Herbststürmen?

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Noch steht die Sonne hoch am Himmel. Die Nächte sind jedoch schon kühl, und der in Flußtäkrn aufsteigende Morgennebel kündet deutlich das nahe Ende des Sommers. Der Regierungschef, die Bundesminister und anderen führenden Politiker rücken von ihrem Urlaub allmählich ein. Die sonnengebräunten Gesichter und ihr Lächeln können aber nicht über die Sorgen hinwegtäuschen, mit denen sich alle, die in diesem Land Verantwortung tragen und die diese Verantwortung auch spüren, an die Arbeit dieses Herbstes machen. Vieles, allzu vieles wurde in den letzten Monaten auf die lange Bank geschoben, nun steht es aber zur Erledigung an. Schon trommelt die Tagespresse landauf, landab einen politisch bewegten Herbst ein, und auch wer den aufgeregten Tanz der Schlagzeilen nicht mitmacht und sich „in der Erscheinungen Flucht“ den Blick für das Wesentliche zu bewahren sucht, wird der Meinung zuneigen, daß in diesen Wochen — wahrscheinlich schon sehr bald — die Weichen der österreichischen Innenpolitik gestellt .werden.

Da ist zunächst das Budget — und alles, was rund um dieses sich aufbaut. Wie die routinemäßige Budgetdebatte der Abgeordneten im Parlament schon lange zum Anlaß wurde, um sich vieles vom Herzen zu reden, was nicht unmittelbar tnit den Fragen des Staatshaushaltes žit tun hat, so wurden die Wochen und Monate der Budgeterstellung in den letzen Jahren immer mehr zum Turnierplatz im zwischen-, aber auch im innerparteilichen Kräftespiel. Verflogen jedenfalls ist der Sommertraum, daß rechtschaffene, fleißige Arbeit und ehrliche Maklerdienste allein genügen werden, um dann im Herbst das Korn des Budgets, fein säuberlich in die Säckchen der einzelnen Ressorts verteilt, unter allgemeinem Beifall zur parlamentarischen Mühle fahren zu können. Die lautstarke Wortmeldung der Bauern hat seit geraumer Zeit deutlich werden lassen: die Auseinandersetzungen um das Budget 1962 sind nicht zu Ende, ihr entscheidendes Stadium hat noch gar nicht begonnen. Lind dafür stehen genau sieben Wochen und kein Tag mehr zur Verfügung. Auch das sonst so beliebte Spiel, auf Landtags- oder Gemeinderatswahlen als „Barometer“ zu warten und von deren Ausgang abzulesen, ob man „aufs Ganze gehen“ sollte oder ob sich eine schmiegsame Politik für die nächsten Monate eher empfehle, ist diesmal unseren Parteien versagt. Der erste Wähler in Oberösterreich und in Tirol geht nämlich am Morgen des 22. Oktober zur Urne, um einen neuen Landtag zu bestellen — genau um sieben Stunden später, als die Frist für die Einbringung des Budgets abgelaufen ist.

Aber nicht nur am „häuslichen Herd“ drängen Entscheidungen heran. Auch die Außenpolitik steht nicht länger im zweiten Glied. Vor allem will sie wieder aus jenem wahltaktischen und parteipolitischen Ränkespiel herausgenommen werden, das sich ihrer in den letzten Monaten zu bemächtigen drohte. Dazu sind die kommenden Entscheidungen, allen voran in der Integrationsfrage, zu ernst. Sie können nur von der Bundesregierung gemeinsam getroffen und gemeinsam verantwortet werden. Die Maxime, unter der sie stehen müssen, ist für jeden, der es ehrlich mit diesem Land meint, eindeutig wie eh und je: Soviel wirtschaftliche Zusammenarbeit mit allen europäischen Ländern wie möglich, aber stets, mit Bedacht auf die im Staatsvertrag — der Magna Charta der Existenz eines freien Österreich — , eingegangenen Verpflichtungen zur Neutralität. Keine Isolierung, aber auch keinen Freibrief für jene, die nicht davor zurückschrecken, mittels, des Hebels der Wirtschaft die Pfeiler unser aller Existenz bewußt oder unbewußt zu lockern. Es hätte nicht der sowjetischen Anfrage an den österreichischen Regierungschef bedurft, um zu zeigen, daß einem solchen Tun nach einer kurzen europäischen Euphorie leicht ein Sturz ins Bodenlose folgen könnte. Neben einer Sondierung in Brüssel empfiehlt sich auf jeden Fall eine Intensivierung der Gespräche mit Bern. Ein Besuch des Bundeskanzlers in der Eidgenossenschaft, die an sich das traditionelle erste Reiseziel jedes österreichischen Regierungschefs ist, könnte hier nur klärend wirken. Auch Südtirol ist für die österreichische Außenpolitik keine Nebenfront geworden. Eine nüchterne Zwischenbilanz mache hier den Anfang. Aus ihr ergibt sich konsequent für das neue Arbeitsjahr eine Politik, die alles meidet, was einer auf geschreckten Weltöffentlich keit auch nur nach Ermunterung der Gewalt und ihrer Folgen erscheint, die aber ebenso deutlich zu verstehen gibt, daß Österreich. nach wie vor seiner im Gruber-Degasperi-Abkom- men eingegangenen Verpflichtung als Anwalt der guten Südtiroler Sache treu bleibt. Der Außenpolitik eines kleinen Landes an der Scheidelinie der Weltpolitik bietet sich kein breiter, gefahrenloser Pfad. Um so notwendiger ist es, daß einträchtig gegangen wird.

Damit sind wjr aber, wie es uns scheint, bei der zentralen Frage der österreichischen Politik angelangt. Diese hfeißt nämlich nicht 500 Millionen für die Bauern oder Rentennach- ziehung für diese oder jene Gruppe, auch nicht Südtirol und nicht einmal Integration. Über allem steht die Frage, ob es in diesen Wochen gelingt, der Dekomposition unseres politischen Lebens zu steuern und die für jeden, der Augen hat, zu sehen und Ohren, zu hören, offenkundige Auflösung def österreichischen Politik in persönliche Rivalitäten, Cliquen und kurzfristige Zweckbündnisse hintanzuhalten. Man glaube nicht, daß dem einfachen Staatsbürger diese Vorgänge hinter und zwischen den Kulissen länger verborgen bleiben. Wäre dies der Fall, der Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes hätte sonst kaum in einer in mehr als einer Hinsicht bemerkenswerten Rede vor einer Betriebsversammlung in Trieben von trotz aller Erfolge unserer wirtschaftlichen Aufbauarbeit „wachsendem Mißbehagen und latenter Unzufriedenheit“ gesprochen.

Das Interessanteste aber an den Ausführungen Olahs, der sich, wenn man von der Polemik in der Fremdarbeiterfrage absieht, in Trieben zu jener staatspolitischen Klarsicht durchgerungen hat, die seinerzeit seinem Vorgänger Anton Böhm eine über die Parteischranken hinausgehende Achtung sicherte, ist, daß er nicht nur den

Splitter im Auge des Gegners, sondern wohl auch den Balken im eigenen (sozialistischen) Auge klar zu erkennen scheint. Wer ist wohl so ein Funktionär, der „jeden Tag als einen verlorenen betrachtet, an dem er nicht irgendwo eine Rede halten kann, in der er irgendeinem Teil der Bevölkerung irgend etwas verspricht“? ...

Klarheit und Ordnung im politischen Gelände wiederherzustellen und auch Wahrhaftigkeit nicht ganz der Moral des politischen Dschungels zu opfern, ist in der Tat vielleicht die vordringlichste Aufgabe der österreichischen Politik. Aus ihr allein wächst Vertrauen und selbst Opferbereitschaft, und ohne beide dürfte es in Hinkunft nicht gut gehen in Österreich.

„Gorbachs letzte Chance“ hat ein Salzburger Blatt nicht sehr taktvoll über die Auseinandersetzungen dieser Septemberwochen geschrieben und pathetisch an den „Frontoffizier“ appelliert. Tatsächlich fordert dieser Herbst von dem Regierungschef nicht wenig. Die unmittelbare Nachfolge eines Julius Raab war von allem Anfang an eine undankbare Aufgabe. Wer immer sie übernahm, wußte, daß er nicht mit der gleichen Autorität sein Ja und Nein gegenüber Freund und Gegner zum politischen Gesetz machen konnte. Wir schätzen die Konzilianz des Regierungschefs. Möge er sich jedoch nicht die Rolle jenes „Kräl Dobre“ (König Gut) Zuspielen lassen, als der der Jagel- lone Wladislaw II. in die Geschichte Böhmens eingegangen ist. Wer immer ihm • seine Anliegen vortrug, bekam gute, zustimmende Worte. Da es aber zumeist bei diesen blieb, war es kein Wunder, wenn letzten Endes alle unbefriedigt nach Hause gingen. Ob die Entscheidungen dieses Herbstes das „Länderkabinett“ des Kanzlers gar überfordern, wird man jedenfalls in den nächsten Wochen schon sehen. Denn der „Bauernsturm“ in der Budgetschlacht hat ebenso wie auf der anderen Reichshälfte die Rede des Gewerkschaftspräsidenten eines gezeigt: Die soziologisch tragenden Großgruppen unserer Bevölkerung stehen mit ihren Exponenten heute nicht in der vordersten Front der politischen Verantwortung. Dies verstärkt die Labilität der Situation, schafft aber gleichzeitig auch eine Reserve, der man sich in der Krise bedienen kann.

Kommt es in diesem Herbst zu einer innenpolitischen Krise? Muß sie kommen? Kein Zweifel: Manche wünschen sie herbei. Unnütz, festzuhalten, daß wir nicht zu ihnen gehören. Allein, es ist wie in der großen Politik. Wenn die beiden Regierungsparteien, um von der Nichtbewältigung innerparteilicher Probleme abzulenken, ihre Aggressionen nach außen verlagern, wenn kleinliche Gehässigkeiten an Stelle echten Willens zu rechtschaffenen Kompromissen treten, wenn Partisanen links und Heckenschützen rechts alle verantwortungsvolle Arbeit desavouieren, wenn die Atmosphäre weiterhin dumpf und vergiftet bleibt, dann muß ein reinigendes Gewitter willkommen sein. Dieses Gewitter aber heißt: die einvernehmliche Ausschreibung von vorzeitigen Neuwahlen. Nicht weil wir etwa Gegner der Zusammenarbeit der beiden großen Parteien geworden wären, plädieren wir gegebenenfalls dafür. Ganz im Gegenteil. Man darf die Koalition nicht zu Tode schleppen lassen. Das totale Gleichgewicht wirkt heute lähmend. Man sollte dem Wähler rechtzeitig, ehe noch das Gift in die Massen eingedrungen ist, Gelegenheit geben, klare Führungsverhältnisse herzustellen. Wie immer sie ausfallen mögen: Dann soll wieder, dann muß wieder zusammengearbeitet werden.

Noch steht die Sonne hoch am Himmel, aber der Herbst kündet sich schon deutlich an. Sorgen wir dafür, daß dieser Herbst 1961 nicht zu einem Herbst unseres Gemeinwesens wird.

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