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Digital In Arbeit

Elisabeth Orth

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Haben Sie schon einmal Ihren Paß verloren? Und es nicht gemerkt?

Das Dokument an seinem Platz gewähnt, also in der Handtasche zum Beispiel, die aus dem Ausland nach dem Inland mit Ihnen flog und Sie daselbst eine Woche lang treu begleitete, Rechnungen in sich aufnahm, bezahlte und unbezahlte, die groß genug ist, den Paß in ihr zu wähnen, bis -ja, nur am Vorabend der nächsten Reise vom Inland ins Ausland ist er halt nicht mehr da, auch nicht in den Seitenfächern der handlichen Tasche, auch nicht auf ihrem Grund, auch nicht unter Schlüsselbunden und neben Führerschein/ Steuerkarte/ Zulassungsschein-Mäpp-chen, nicht hinter Brillenetuis, Tabatieren, Liebesbriefen und Erlagscheinen. Aus. Nicht da.

Mein Gott, man trägt auch den Reisepaß nicht im Alltag mit sich herum, also wirst du ihn, ordentlich wie du bist, in die Schreibtischschublade gelegt haben. Und schon beim Aufziehen derselben weißt du, daß er auch da nicht ist. Es ist spät abends, andere würden sagen, es ist knapp vor Mitternacht, viel Z6it noch bis zur Frühmaschine - such.

Das Haus ab. Am besten vom Keller bis zum Dachboden, den du gar nicht hast, auf diesem Weg kommst du mit Sicherheit an all den Stellen vorbei, wo du das verd... Ding hingelegt haben könntest. Dreh Musik auf, schalt den Fernseher an, damit die Suche nicht so stur wird, du dein Herz weniger laut klopfen hörst und dir dein Kopf nicht klamm wird bei dem Gedanken an Verlustanzeige, daran, daß sie dich morgen nicht aus dem Land lassen werden, noch nie ist dir das passiert, nicht in Haifa, nicht in New York, nicht in Singapur und nicht in Winsen an der Luhe.

Wirst du alt oder nur hysterisch oder tagträumst du zu viel? Schon bröckelt die fortschreitende Nacht Schatten in die vertrauten Lampen, wo ist der Nachweis, daß man ist, wer man ist, Identität verloren, Nationalität verlegt, staatenlos, displaced person, illegal, jederzeit abzuschieben. Um viertel nach drei in der Früh gedeihen die Nachtschattengewächse.

Schnür dein Bündel. Du gehörst nicht hierher. Hast du Asyl beantragt? Sie volksabstim-men über dich.

Über welche Grenze hast du dich eingeschlichen? Hast du Geld für eine Übernachtung bei dir?

Mißgeboren ist deine Nation, du siehst nur nicht fremd aus, aber du bist es. Wer erlaubt dir den Aufenthalt, wer bewilligt dir Arbeit? Bist du politisch verfolgt, wenn ja, von wem, weswegen und wie arg?

Oder willst du nur besser leben? Mit einem ordentlichen Paß in schicker Lederhülle, den ein gepriesener Unbekannter bei der Polizei abgab und der dich von deinen Alpträumen erlöste?

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