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Freiheits-Krise

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Auf erschreckende Weise verliert in der Öffentlichkeit die Freiheit an Wert: in den westlichen Demokratien, weil man sich dort so sehr an sie gewöhnt hat, daß man sie als selbstverständlich auffaßt - was ärgsten Mißbrauch ganz normal werden läßt. In den postkommunistischen Staaten, die eben die ersten Gehversuche in die Freiheit ermöglichen, besteht die große Gefahr, daß die Freiheit zu einer unerwarteten Enttäuschung wird.

Im Westen hat der englisch schreibende Wiener Nach-kriegsemigrant Paul Feyer-abend mit dem Satz "Anything goes" auf demagogische Weise den Mißbrauch der Freiheit als Prinzip ausgerufen. Man darf gleich Albert Camus zitieren: "Ohne Gesetz gibt es keine Freiheit... Wenn der Zufall König ist, dann beginnt der Marsch ins Dunkle, die grauenvolle Freiheit des Blinden."

Warum beginnt die eben mühsam gewonnene Freiheit in den einstigen Staaten des Mar-xismus-Leninismus ihre Anzie-hungskraft zu verlieren? Es gab keinerlei Vorbereitung, keine Information, keine Menschenrechte, die Voraussetzungen für ein sinnvolles Leben in Freiheit hätten schaffen können. Der immer stärker werdende Impuls bei der breiten Bevölkerung war rein wirtschaftlich: Langsam sprach sich herum, daß es im Westen weitaus besser gehe, die Menschen dort höheren Lebensstandard hätten, und gerade diese zweifellos bestehenden Fakten verschmolzen immer enger mit dem Begriff Freiheit.

Gewiß gab es da einen Zu-sammenhang, den schon Charles de Montesquieu erkannt hatte: "Der Ertrag des Bodens beruht weniger auf dessen Fruchtbarkeit, als auf der Freiheit ihrer Einwohner." Nur geht das nicht von heute auf morgen. Die Ausrufung der Demokratie füllt nicht automatisch die von kommunistischer Mißwirtschaft geleerten Läden.

Die durch vier oder sieben Jahrzehnte verhinderte Kenntnis von Freiheit und Wirtschaft wirkt sich auch noch nach dem Zusammenbruch des Systems katastrophal aus: die Verwechslung von Demokratie mit plötzlichem Wohlstand ist ein überaus wirksamer Spätzünder des gescheiterten Systems.

Hat sich der marxistische Traum vom Paradies der Arbeiter oder überhaupt der Menschen auf verhängnisvolle Weise in den Köpfen allzuvielerdort erhalten? Die Arbeit, die Mühen, der Totaleinsatz, die einst nötig waren, das Ruineneuropa im Westen langsam aufzubauen, sind unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft nicht mehr anzusehen. Ich plädiere für große Ausstellungen über diese Phase, sie könnten sowohl der Jugend im Westen wie auch den Besuchern aus dem Osten an-schaulich unsere Ausgangsposition zeigen. Die Freiheit als tragende Kraft der Demokratie droht zu verkümmern - hier durch Mißbrauch und dort durch Mißverstehen.

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