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Keine Versuche - sondern sofort der Ernstfall

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In normaler Konstruktion aus stabilen und homogenen Stoffen ist die Zahl der Unbekannten praktisch Null, und der Ingenieur kann die Eigenschaften seines Produktes exakt vorhersagen (oder wir würden uns seiner Brücke nicht anvertrauen). Nur deshalb ist es möglich, umgekehrt von den gewünschten Eigenschaften her die Wahl der Konstruktion rechnerisch zu bestimmen.

Für den biologischen „Ingenieur“, der die überwältigende Komplexität vorhandener und zum Teil verborgener Determinanten mit ihrer selbsttätigen Dynamik gleichsam

„unbesehen“ übernehmen muß, ist die Zahl der Unbekannten im Gesamtplan riesig. Größtenteils ist der APlan“ also gar nicht seiner und unbestimmt vieles davon ihm nicht bekannt. Diesem X muß er seinen anteiligen Beitrag zur Totalität der wirkenden Ursachen anvertrauen.

Vorhersage seines Schicksals in diesem Ganzen ist daher auf Erraten beschränkt und Planung größtenteils auf Wetten. Die beabsichtigte Umplanung oder Abwandlung oder Verbesserung eines Organismus ist tatsächlich nicht mehr als ein Experiment, und eines mit so langer Laufzeit - wenigstens im genetischen Felde -, daß sein Endergebnis (wenn überhaupt eindeutig identifizierbar) normalerweise jenseits der Feststellung durch den Experimentator selbst liegt.

Dies wiederum ändert vollständig das konventionelle Verhältnis zwischen bloßem Versuch und wirklicher Aktion. In normaler Technologie sind Versuche unverbindlich, ausgeführt mit stellvertretenden Modellen, die nach Belieben geändert oder verschrottet, getestet und wiedergetestet werden können, bevor ein schließlich gutgeheißenes Modell in den Erzeugungsprozeß gelangt: Erst dann wird die Sache verbindlich.

Keine solche Substitution des Als-ob für das Wirkliche ist gewährt in biologischer Manipulation, besonders am Menschen. Damit der Versuch gültig ist, muß er am Original selbst stattfinden, dem im vollsten Sinne wirklichen und authentischen Gegenstand.

Und was hier zwischen Beginn und schlüssigem Ende des Versuches liegt, ist das tatsächliche Leben von Individuen und vielleicht ganzen Bevölkerungen. Dies macht die ganze Unterscheidung von bloßem Versuch und definitiver Tat zunichte. Die tröstliche Trennung der beiden ist dahin und damit die Unschuld des gesonderten Experiments.

Das Experiment ist die wirkliche Tat - und die wirkliche Tat ein Experiment.

Dem füge man das Attribut der Unumkehrbarkeit hinzu,das organische Prozesse von mechanischen unterscheidet. Alles in mechanischer Konstruktion ist reversibel. Strukturelle Änderungen im Orga-

nischen sind irreversibel.

Praktisch ergibt sich daraus, daß konventionelle Ingenieurskunst jederzeit ihre Fehler korrigieren kann, sowohl im Planungs- und Teststadium als auch danach; selbst die fertigen und vermarkteten Erzeugnisse, zum Beispiel Automobile, können zur Behebung von Mängeln in die Fabrik zurückbeordert werden.

Nicht so in biologischer Technik. Ihre Taten sind unwiderruflich in jedem ihrer Schritte. Wenn ihre Ergebnisse sichtbar werden, ist es für Berichtigungen zu spät. Was getan ist, ist getan. Man kann nicht Personen zurück ins Werk liefern oder Bevölkerungen verschrotten.

In der Tat, Was man mit den unvermeidlichen Fehlleistungen genetischer Intervention tun soll, mit den Schnitzern, den Mißgeburten - ob man den Begriff des „Ausschusses“ in die menschliche Gleichung einführen soll, wozu uns gewisse der erwogenen Formen genetischer Intervention nötigen würden - das sind ethische Fragen, die gesehen und beantwortet werden müssen, bevor auch nur der erste Schritt in diese Richtung getan werden darf.

Der Umstand, daß biologisches Manipulieren sich vorwiegend auf der genetischen Ebene bewegen wird, bedingt einen weiteren Unterschied von normaler Technologie. Nichts der Fortpflanzung und Vererbung Vergleichbares gibt es bei Maschinen.

Vom Standpunkt des „Herstellers“ bedeutet dies den Unterschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Kausalbeziehung zum Endergebnis. In biogenetischer Technik ist der Weg zum Ziele mittelbar, über die Injizierung des neuen Kausalfaktors in die Erbreihe, die seine Wirkung erst in der Geschlechterfolge zum Vorschein bringen wird.

„Herstellen“ heißt hier Entlassen in die Strömung des Werdens, worin auch der Hersteller treibt.

Auszug aus: DIE ERDE WEINT. Von Jürgen Dahl (Hrsg.). dtv/KIett-Cotta, München 1987. 317 Seilen.

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