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Leichen als Ruhmesblatt

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Wieso besteht in totalitären Systemen ein besonders hoher Bedarf an moralistischer Selbstrechtfertigung? Man kann sich das exemplarisch an einer Figur verdeutlichen, die im Kontext totalitärer Politik eine ebenso unmaßgebliche wie unentbehrliche Rolle spielt, an der Figur des Mitläufers nämlich.

Selbstverständlich hat das Phänomen der Mitläuferschaft auch eine soziologische und psychologische Seite. In unserem Zusammenhang interessiert die moralische Verfassung des Mitläufers.

Am Anfang der Mitläuferkarriere steht nicht selten die moralisch-politische Indifferenz, ja der Opportunismus, der sich bietende Vorteile ergreift. Aber jeder Opportunismus gefährdet die moralische Identität des Subjekts, und zwar um so stärker, je entschiedener die politische Praxis, an der man teilnimmt, sich über die einfachsten, erläuterungsbedürftigen Regeln der Gemeinmoral hinwegzusetzen beginnt.

Der Opportunist findet sich in ein moralisches Düemma verstrickt, und es gibt nur zwei Wege, diesem Dilemma zu entkommen und die moralische Ubereinstimmung mit sich selbst wiederherzustellen.

Der erste Weg ist der seltene, weil kostenträchtige Weg der Verweigerung, die im äußersten Fall zum aktiven Widerstand wird. Der andere Weg ist weniger kostenträchtig, und er ist daher der klassische Weg der Mitläuferschaften. Es ist der Weg der Wiederherstellung und Bewahrung moralischer Konsistenz dadurch, daß man das zu glauben beginnt, wobei man zunächst nur mitlief.

Der moralische Zweifel wird gebannt durch Änderung dessen, was man in letzter Instanz für wahr hält — mit der Konsequenz, daß die moralische Reflexion nunmehr eine Praxis als Ausnahmepraxis für erlaubt, ja für geboten hält, die in Orientierung an common-sense-fähigen Wirklichkeitsannahmen schlechterdings hätten verworfen werden müssen.

Weder die Heuchelei noch der Zynismus ist für Subjekte totalitärer politischer Großverbrechen kennzeichnend, vielmehr Gesinnungsintensität in Orientierung an ideologisch fixierter, ungemeiner Wahrheitsgeltung.

Defizitär ist nicht der Wille zu moralisierender Selbstlegitimation, sondern die Urteilskraft, die einen in Orientierung an Erfahrung und traditional gefestigtem politischem Wirklichkeitssinn gemeinsinnsfähig urteilen ließe, was erlaubt und was nicht erlaubt ist und was in eben dieser Orientierung andere Menschen sich bieten und nicht bieten lassen werden.

Für die besondere Rolle, die gerade in totalitären Systemen die moralisierende Selbstrechtfertigung spielt, gibt es über die Mitläuferkarriere hinaus, die zu ideologischer Gläubigkeit, ja im Extremfall zum Fanatismus drängt, zahlreiche Belege.

Ein besonders prominenter Beleg ist der berühmte, berüchtigte moralisierende Respekt, den Heinrich Himmler vor seinen SS-Obergruppenführern am 4. Oktober 1943 in Posen denjenigen zollte, die nun pflichtgemäß tätig geworden seien, „dieses Volk..., das uns umbringen wollte, umzubringen”.

„Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen zusammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte ...,” (Himmler).

Sich die Hände blutig machen, aber für höhere Zwecke — so verständigt sich über sein schlimmes Tun nicht ein Zyniker, sondern der Gläubige, dessen common-sense ideologisch zertrümmert und dessen praktische Urteilskraft infolgedessen durch hochgradigen Wirklichkeitsverlust korrumpiert ist.

Eben deswegen kann dann der Gläubige in seinem ideologischen Fanatismus sagen: „Wir hatten das moralische Recht”, das zu tun, was der common-sense als schwerstes Unrecht zu erkennen für trivial halten müßte.

Es ist evident: Nicht ein gewöhnlicher krimineller Defekt hat hier die moralische Urteilskraft zerstört, sondern eine ideologische Gläubigkeit, die den Verstand besetzt hält. Eben deswegen nimmt hier — anders als in den Fällen gewöhnlicher Kriminalität — die Begründung fürs schlimme Tun ihrerseits die Form einer moralisierenden Selbstrechtfertigung an...

Um es zu wiederholen: Es handelt sich hier um die moralisierende Form der Rechtfertigung extremster politischer Verstöße gegen traditionelle Regeln unserer Gemeinmoral. Rechtfertigungen dieser Art rekurie-ren stets auf politisch heilsbedeutsame Ungemeinwahrheiten, deren absolut privilegierende Wirkung sich dadurch ergibt, daß man als Subjekt des Glaubens an diese Wahrheiten ebenkraft dieser Wahrheiten zugleich weiß, wieso die anderen gerade nicht, wohl aber man selbst und die eigenen Leute zur Einsicht in dieser Wahrheit befähigt seien.

Ob Rassenzugehörigkeit oder Klassenzugehörigkeit: Die Ideologien, in denen diese Zugehörigkeitsverhältnisse definiert sind, belehren die Gläubigen dieser Ideologien zugleich darüber, daß und wieso sie zu ihrem privilegie-renden Glauben kraft der fraglichen Zugehörigkeiten ermächtigt seien.

Entsprechend hat dann auch der Widerspruch gegen die Wirklichkeitsannahmen dieser Ideologien nicht lediglich die Bedeutung der Anmeldung eines Dissenses auf kognitiver Ebene. Vielmehr hat solcher Widerspruch durch sich selbst politischen Charakter: Er zeigt den Feind an.

Der Autor ist Professor an der Universität Zürich. Der Beitrag zitiert auszugsweise einen Aufsatz zum Thema „Die Politik, die Wahrheit und die Moral” in: „Geschichte und Gegenwart. Viertelsjahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung''. 4/1984. Verlag Styria, Graz.

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