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SPD-Krise: Münchner Putsch 72

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Putsch: Politischer Umsturz durch eine Minderheit. (Lexikon der Deutschen Sprache, Verlag Ullstein, Frankfurt 1969.)

Demokratisierung der Demokratie: Ist die heutige Demokratie Jähig, Strukturveränderungen, wie sie von diesen Kräften (gemeint sind jene der radikalen Linken) angestrebt werden, mit normalen Mitteln durchzuführen? Ja, antworten wir, wenn diese Minoritäten in der Lage sind, sich zu Mehrheiten umzubilden. (Dazu: Universitätsprofessor J. Rovan, Paris, im Bergedorfer Gesprächskreis zu Fragen der industriellen Gesellschaft, November 1970.)

Und so verlief im Jahre 1972, im Fall München, eine „Demokratisierung der Demokratie“ mit „normalen Mitteln“:

1960, in der Blütezeit des „Deutschen Wirtschaftswunders“, stieg in der Kommunalpolitik dieses fortschrittlichen Industriestaates ein politischer Senkrechtstarter auf: Hans-Jochen Vogel, nachher bis Juni 1972 Oberbürgermeister der Olympiastadt München, Verkörperung des in den sechziger Jahren populär gewesenen Kennedys-Stils. Jung, zum Unterschied von seinem damals bereits mehr als doppelt so alten, 74jährigen sozialdemokratischen Amtsvorgänger. Ideologiefrei im Gegensatz zu der in seiner Partei noch vorhandenen marxistisch geprägten Gesinnungsgemeinschaft. Cool and efficient und also ganz anders in den Methoden als sein Vorgänger, der nach 1945 mit dem urbajuwarischen Schlachtruf: „Rama-Dama“ seinen Münchnern voranging, als sie ihre kriegszerstörte Stadt aufräumten und wohnlich machten.

1972, auf dem Höhepunkt kommunalpolitischer Erfolge und am Vorabend der Eröffnung des Circus maxismus 1972 muß Vogel wohl oder übel die Amtskette des Oberbürgermeisters einer europäischen Großstadt, die während seiner Tätigkeit in weltstädtische Proportionen geriet, ablegen. Vogel mußte es tun. Mußte es tun, obwohl er bei seiner letzten Wahl (1966) 78 Prozent der Wählerstimmen auf seine Person, das heißt: nicht auf seine politische Partei, konzentrieren konnte. Aber sechs Jahre nachher ist auch eine 78pro-zentige Mehrheit nicht mehr bombensicher gegen jene bolschewikischen Methoden, mit denen neuerdings in der freien Welt des Westens Mini-Minoritäten der radikalen Linken nach der Macht greifen — und sie bekommen.

Bolschewikische Methoden, das sind nicht jene terroristischen Gewaltmethoden, die bis unlängst eine andere Kolonne der radikalen Linken in der BRD, die Baader-Meinhof-Gruppe, praktizierte. Bolschewikisch kommt uns in der Massendemokratie der freien Welt des Westens neuerdings eine Minorität, die eingesehen hat, daß die sektiererische Absonderung der intellektuellen Revolutionäre der sechziger Jahre zu nichts führt; die sich inmitten einer „schweigenden Masse“ als repräsentativ für die Mehrheit ausgibt; und die damit Erfolg hat, indem sie in die oft leeren Schneckenhäuser der Apparate in Partei, Staat und Kirche schlüpft.

In seiner unlängst erschienenen Autobiographie hat Vogel Im Kapitel „Die Entwicklung der Münchner SPD“ ungewollt einen „kurz gefaßten Lehrgang“ in diesen bolschewikischen Methoden geliefert.

50 Jahre nach dem mißglückten Hitler-Putsch von 1923 und 30 Jahre nach der Machtergreifung im Deutschen Reich durch eine nationalsozialistische Minderheit, putscht (Hinweis: Definition am Anfang) in München wieder eine Minorität und erzwingt, diesmal mit bolschewikischen Methoden, den Umsturz in der Münchner SPD, im Rathaus und in der Stadt, die zu guter Letzt mit der kompakten SPD-Mehrheit das neue Stadtregime legitimiert.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: hier wird nicht genüßlich und mit der Mentalität eines spießbürgerlichen Dreiviertelhirnes ein Fiasko des politischen Gegners bloßgestellt. Der Fall München ist symptomatisch. Er wird sich auch in anderen politischen Parteien, an anderen Orten und in anderen fortschrittlichen Industriestaaten der freien Welt des Westens wiederholen. Zumal das herrschende Industriesystem der Technokraten aller politischen Lager noch keine haltbare Alternative in puncto Ziele, Methoden und Typen hat.

Wie geschah es in München?

• In einer an der Macht befindlichen „modernen, progressiven Massenpartei“, die im Falle der Münchner SPD aber nur einen Bruchteil der 1,25 Millionen Stadtbewohner als ihre eingeschriebenen Mitglieder hat,

• organisiert ein Bruchteil der Parteimitglieder die „Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten“ (JUSOS) und damit „eine in sich geschlossene Parallelorganisation zur Gesamtpartei mit eigenen Organen, eigener Willensbildung und eigener Öffentlichkeitsarbeit“ (Vogel). Und Vogel beschreibt weiter,

• wie die JUSOS im Bündnis mit den gescheiterten Revolutionären der sechziger Jahre die Mitgliederstände in den Sektionen der Münchner SPD systematisch aufpumpten und oft zahlenmäßig vervielfachten;

• wie mit Hilfe dieser .engagierten“ Jungmitglieder der eingerostete Betrieb in den Sektionen in Schwung gebracht wurde, wie die JUSOS ihre in den Sektionen gewonnenen Positionen befestigten;

• wie seit 1969 die JUSOS die Infrastruktur der alten Arbeiterpartei veränderten, um so letzten Endes die Zusammensetzung, die Beschickung und die Willensbildung des entscheidenden Gremiums der Münchner SPD, des Parteitags, in die Hand zu kriegen; und

• wie schließlich auf diesem Parteitag die Fraktion der JUSOS, repräsentativ vor allem in den 40 Prozent der Delegierten aus Reihen der Studenten und Intellektuellen, den „Rest fertig“, das heißt „gefügig“ gemacht hat.

Als sich der drohende Umschwung zeigt, holte Vogel eilends die intellektuellen Stars des Sozialismus nach München: Den Bonner Bundesvertei-

Fortsetzung auf Seite 15

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