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Man spricht heute viel von einer „Personalisierung der Politik“. Bei der Wähl eines Präsidenten durch das Volk, wie in Amerika und Frankreich, aber auch bei der Wahl eines Parlamentes spielt die Persönlichkeit des künftigen Staats- oder Regierungschefs eine ausschlaggebende Rolle.

Das war in den westlichen Demokratien nicht immer so. In den Vereinigten Staaten gab es Zeiten, in denen der Präsident, und solche, in denen — wenn der Präsident schwach war — der Kongreß regierte. Großbritanniens und Frankreichs schwankende Politik zwischen den beiden Weltkriegen kam nicht zuletzt davon her, daß es an einer entschlossenen und stabilen Führung fehlte und das Parlament ein Bild der Zerrissenheit bot.

Ich spreche nicht von der täglichen Kleinarbeit, die der Politiker, ob Minister oder Parlamentarier, auch erledigen muß; auch nicht von der Staatsverwaltung, die zwar wichtig, aber bloß ein ausführendes Organ der Regierung ist. Ein britischer Premierminister zur Zeit der Königin Victoria, Lord Salisbury, nannte die Politik eine „matter of busi-ness“, das heißt eine Geschäftssache. Nun ist eine gute Geschäftsführung im Staate ebenso wichtig wie in der Wirtschaft;, aber sie genügt nicht.

Im Jahre 1929 sagte der französische Außenminister Briand zu seinen Mitarbeitern: „Die Stunde ist gekommen, da man eine Strömung allgemeiner Begeisterung auslösen muß; ich lanciere meine Vereinigten Staaten von Europa. Zwischen geographisch benachbarten Völkern wie denjenigen Europas sollte ein föderatives Band bestehen.“ Ein Jahr später erklärte der schweizerische Außenminister, Bundesrat Motta, vor der Völkerbundversammlung in Genf: „Europa sollte die Bestrebungen seiner Wirtschaft besser koordinieren; es sollte eine weniger übertriebene Zollpolitik treiben, eine Zusammenarbeit der Banken herbeiführen, die wirtschaftliche Unordnung bekämpfen, die Produktion disziplinieren, sich mit der Krise der Landwirtschaft befassen, den Verkehr erleichtern. Ich glaube auch“, fuhr er fort, „daß der wirtschaftliche und soziale Friede den endgültigen internationalen Frieden vorbereiten würde.“ Von einigen Problemen sagte der Redner, sie seien ihrem Wesen nach weltpolitische Probleme, insbesondere die Sicherheit, die Abrüstung und das Verfahren zur Verhütung von Kriegen. Die kontinentalen Probleme, meinte Motta, hätten fast ausnahmslos auch eine universale Bedeutung. Das war staatsmännisch gedacht.

Heute wissen wir, daß trotz richtigen Einsichten und mehr noch infolge von begangenen Fehlern der Krieg 1939 nicht vermieden werden konnte. — S^aats-männer haben nicht unrecht, wenn sie ihre Völker für eine Idee zu begeistern versuchen; dennoch hatte auch Bismarck nicht unrecht, als er sagte, Politik sei „ein flüssiges Element“. Ein Staatsmann muß sein Schiff oft durch gefährliche Strömungen steuern können, damit es nicht scheitere: damit dem Staat und Volk kein Unglück zustoße. Auf der einen Seite ist die Ideologie, auf die sich eine Nation oder eine regierende Partei stützt, zwar ein wichtiger Faktor der Politik; aber jede Regierung steht vor der unausweichlichen Notwendigkeit, ganz nüchterne Staatsinteressen zu verteidigen. Daraus entstehen nicht selten Widersprüche, aber Politik, wie das Leben, besteht aus Widersprüchen. Ein Staatsmann darf pragmatische Lösungen nicht scheuen und sich nicht vor einer Kritik fürchten, die ihm Widersprüche zwischen seiner Ideologie und seinen praktischen Maßnahmen vorwirft. Ich möchte Motta nochmals zitieren, der mir anläßlich eines von mir verfaßten Lageberichtes im April 1939 schrieb: „Wie recht haben Sie zu zeigen, daß sich hinter den Ideologien die Interessen verbergen.“ Das war vier Monate vor dem Pakt zwischen Hitler und Stalin.

Vor 600 Jahren schrieb ein chinesischer Weiser namens Schu Ko-liang, der im heutigen China viel zitiert wird: „Es schickt sich, die politischen Veränderungen wahrzunehmen und sich ihnen anzupassen.“ Ein Staatsmann, sagte er weiter, müsse sich die Stabüität der Regierung angelegen sein lassen; es sei seine Pflicht, „Entscheidungen zu fällen, um den unendlichen und ständigen Wechselfällen der Staatsgeschäfte die Stirn zu bieten“. Politische Denker wie dieser haben Verhaltensregeln empfohlen, oder sie halben Systeme geschaffen, aber es ist bemerkenswert, daß sie in der Regel nicht selber die Staatsgeschäfte lenken. Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, Burke, Hegel, Marx haben in verschiedenen Ländern und mit ungleicher Wirkung Spuren in deren Politik hinterlassen — keiner von ihnen hat regiert. So daß sich unentrinnbar die Frage stellt. Wie beschaffen ist die Rolle des Staatsmannes und wie, als Mensch, als Geist und Charakter, ist er selbst? Zweifellos läßt es sich nicht bloß auf organisatorische und technokratische Probleme zurückführen, staatsmännisches Wirken ist eine der Wohlfahrt des Volkes dienende Funktion, die auf Grund von gegebenen Verhältnissen und bei häufigen Wechselfällen zwar zielbewußt, aber in der Praxis pragmatisch vorzugehen hat.

Der Stil und die Verfahrensweisen ändern sich im Laufe der Zeiten auf Grund verschiedener Staats- und Gesellschaftsformen und infolge von Veränderungen in der innen- und außenpolitischen Situation. Im Krieg ist eine zielbewußte und entschlossene Führung unerläßlich. Im Frieden und im Bestreben, den Frieden zu erhalten, ist Besonnenheit und Umsicht nicht weniger unerläßlich. Dennoch scheint aus dem vergangenen Weltkrieg auch in den westlichen Demokratien die schon erwähnte „Personalisierung der Politik“ hervorgegangen zu sein. Aber die Aufgabe der Staatsführung ist eine andere geworden. Sie hat weitgehend den Charakter von Zükunftsplanung, von Vor- und Fürsorge angenommen. Die Staats- und Regierungschefs müssen „Kundige“ sein, die über gute Kenntnisse, klaren Verstand und praktisch erprobtes Denken verfügen. Mit der Hilfe von sachverständigen Beratern müssen sie für eine Menge Probleme zweckmäßige Lösungen finden. Doch im Unterschied ziu den Technokraten und Beamten ist es nach wie vor oberste Aufgabe des Staatsmannes, Entscheidungen zu fällen, die Richtung zu weisen und seine Entschlüsse öffentlich zu erläutern und zu rechtfertigen. In seiner Grundstruktur gehört der echte Staatsmann allen Zeitaltern an.

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