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Mit Görres im Ruhrgebiet

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Wenn heute in der Wissenschaft ebenso wie in anderen Kultursachbereichen immer mehr die Tendenz spürbar wird, sich allzuviel von staatlicher Förderung zu versprechen, so ist es um so erfreulicher, wenn es noch Beispiele einer wirksamen Unterstützung wissenschaftlicher Re-i. strebungen aus privater Initiative gibt. Ein solches Beispiel hervorragender Art gibt die im Jahre 1876 gegründete Görres-Gesellschaft, die durch die Herausgabe einer großen Zahl wissenschaftlicher Werke — so etwa des bekannten Staatslexikons —, von acht Zeitschriften, durch den Betrieb von drei Auslandsinstituten und eine vorbildliche Sorge für den akademischen Nachwuchs durch Gewährung von Stipendien und Forschungsaufträgen in Deutschland und in anderen Staaten mit einer beachtenswerten Breitenwirkung tätig ist. Im Jahre 1960 ist die Görres-Gesellschaft zum erstenmal seit ihrem Bestehen zur Abhaltung der Generalversammlung ins Ruhrgebiet gegangen, nach Essen. Damit hatte die Tagung, wie der Bischof von Essen, Dr. Franz Hengsbach, in seiner Begrüßungsansprache hervorhob, gerade für diejenigen Veranstaltungen, die sich mit Problemen der industriellen Gesellschaft befaßten, einen günstigen Standort.

In seinem Festvortrag „Die Freiheit der Kultur als Verfassungsproblem“ kennzeichnete der bayrische Staatsminister Prof. Dr. Theodor Maunz als Freiheit der Kultur die Gewährleistung von Grundrechten mit kulturellem Inhalt, insbesondere die Freiheit von Glauben und Gewissen, Religion, Wissenschaft und Forschung, Lehre und Presse, Kunst und Meinungsäußerung sowie die Gewährleistung freier Elternentscheidungen in Erziehungs- und Schulfragen. Das einigende Band zwischen den verschiedenen Grundrechten ist die Würde des Menschen. Mit diesen Grundrechten ist die größtmögliche Sicherung der Freiheit der Kultur gegeben, die mit den Mitteln staatlicher Verfassungen erreicht werden kann.

Der bekannte Freiburger Philosoph Professor Bernhard Welte entwickelte neue Gedanken über „Meister Ekkehart als Aristoteliker“. Die wichtigsten und umstrittensten Gedanken der mystischen Spekulation des Meisters beruhen seiner Interpretation nach auf einer metaphysischen Anthropologie und Theologie, deren ideelle Vorzeichnung im hochmittelalterlichen Aristotelismus liegt, wie er insbesondere in den Aristoteleskommentaren des Thomas von Aquin bezeugt ist. Dies führt zur Korrektur des einseitigen Urteils über den Meister, das ihn summarisch unter die christlichen Neuplatoniker einstuft.

In der Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften stand da Thema „Das religiöse Verhalten und die industrielle Gesellschaft“ zur Diskussion. Die von Norbert Greinacher (Essen) und Alfons W e y a n d (Andernach) vorgelegten Ergebnisse empirischer und systematischer Untersuchungen aus dem Raum von Essen und Marl-Hüls zeigten, daß auch das religiöse sV^Uenf^tf^lwd^^rtschaftlichenÄJwä.- sozialen Verhältnisse entscheidend mitbestimmt wird. Allerdings handelt es sich nicht um unabwendbare und unbeeinflußbare Faktoren im Sinne eines Sozialdeterminismus, sondern es kann auch in der industriellen Gesellschaft das religiöse Leben der Gesamtgesellschaft durch ein entsprechendes Verhalten von einzelnen und kleineren Gemeinschaften beeinflußt werden. Von Bedeutung ist die in Essen vorgebrachte und durch statistisches Material belegte These, daß nicht in erster Linie die Zugehörigkeit zu bestimmten Berufen, nicht so sehr der Einfluß des Milieus des Arbeitsplatzes für das religiöse Verhalten bestimmend werden, sondern vielmehr die Lebens- und Wohnverhältnisse: Auch in einem industriellen Ballungsraum wie dem Ruhrgebiet fühlt sich der in überschaubaren Gemeinschaften lebende Mensch mehr der Kirche verbunden, als der in der Anonymität einer nicht oder wenig gegliederten Großstadt wohnende. Es ist nicht nur die „Kontroll-funktion“, die von kleineren Gemeinschaften ausgeübt wird, sondern auch die Tatsache, daß das religiöse Leben in hohem Ausmaß auch soziales ist, die seine Entfaltung in den überschaubaren Gemeinschaften begünstigt. Es geht aber nicht um eine wirklichkeitsfremde Ablehnung der Großstadt, die in der industriellen Gesellschaft unvermeidlich ist, sondern um neue Möglichkeiten einer Verwurzelung des Menschen in der „gegliederten“ Stadt. Gerade die industrielle Gesellschaft bringt der Kirche neue Chancen, wenn die soziologischen Voraussetzungen für ein der Naturordnung besser entsprechendes Leben geschaffen werden, wenn ferner im kirchlichen Bereich nach neuen Formen gesucht wird, die den Lebensformen der industriellen Gesellschaft besser entsprechen; so sagte Leopold Rosenmayer (Wien) in Essen, daß eine Neubewertung des Gutes der christlichen Lehre angesichts der Forderungen der modernen Gesellschaft der Religion neue Chancen eröffne', wenn dem Bedürfnis nach Bewußtheit sowie der Notwendigkeit der Beschränkung und Konkretisierung von Wertforderungen entsprochen werden kann.

Die von mehr als 300 Teilnehmern, unter denen sich zeitweise auch der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Bafile, befand, besuchte Tagung leistete auch in ihren anderen Sektionen, so etwa den Volkskundlern, Historikern, Philosophen, Alt- und Neuphilologen Arbeiten von wissenschaftlich fundierter Zeitaufgeschlossenheit.

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