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Zur Tragik deutscher Geschichtsforschung
Einer Einladung der philosophischen Fakultät Folge leistend, hielt Dr. Roland N i t s c h e aus Zürich zwei Gastvorlesungen an der Wiener Universität über „G e- schichtlichkeit und Wirklichkeit” und „Der Wandel der Geschichtsauffassung von Hegel bis Droyse n”. Dr. Nitsche, gebürtiger Österreicher, seit 1938 in freiwilliger Emigration in der Schweiz lebend, leitet seit 1945 den historischen Arbeitskreis des österreichischen Kollegs in Alpbah.
Es ist ein großes, wirklich zeitgemäßes Anliegen, das diesen Geisteswissenschaftler bewegt: die echte verantwortungsbewußte Begegnung von Wissenschaft und Leben, Wissenschaft und Zeitnot. — In diesem Sinn waren auch seine Wiener Vorlesungen angelegt. Im „Wandel der Geschichtsauffassung von Hegel bis Droysen” geht es um ein erregendes, zeitnahes, weil folgenschwerstes Problem: um das allmähliche Hineinschlittern der deutschen Geschichtswissenschaft aus dem Dienst an objektiven und universalen Bezügen in die unreine Dienstbarkeit des nationalistischen Machtstaates. Aus einer „Göttin”, einer Richterin wird eine Magd, die nur allzu willfährig die Wünsche und Gelüste des jeweiligen Machtherrn erfüllt… In sehr behutsamer, wägender Darstellung und Formulierung zeigte nun Nitsche die entscheidenden Anfänge dieses Prozesses auf, der für das gesamte Scheitern der Dichter und Denker des Volkes der Dichter und Denker in der Erfüllung der wahren Dienstpflicht ihrem Volk gegenüber — nämlich: unerbittlicher Mahner und Warner, weil Künder des Absoluten, zu sein — vorbildlich wurde. Schwer, ja nahezu unmöglich ist es, hier oft von persönlicher „Schuld” zu sprechen. Bereits Hegel bewegt sich in tragischer innerer Affinität seiner Persönlichkeit und Geistigkeit ebenso zum preußischen Staat hin, wie dieser seinerseits die Annäherung an den großen Schwaben vollzieht. — Die Historiker Leo, Dahlmann, Sybel und Droysen formen dann das aus, was selbst ihr größter Meister, Ranke, nicht mehr abzubiegen vermag: das immer stärkere Dienstbarwerden der historischen Forschung an den meist sehr subjektiv eigensüchtigen Interessen Preußen-Deutschlands… Sehnsucht nach der „Deutschen Einheit”, Geltungsbedürfnis, der Wunsch „politischaktiv” zu werden — diese und andere persönliche Motive mischen und mengen sich mit rein wissenschaftlichen Anliegen, die auf der innersten Struktur des deutschen Geistes beruhen, so wie er im 19. Jahrhundert geworden ist. — Ein Mahn- und Wammal jedenfalls für die Zukunft! — Nitsche ließ deshalb seine zweite Vorlesung in die Feststellung und Forderung ausklingen : Die Wissenschaftlichkeit des Historikers ist abhängig von seiner Sittlichkeit. Da jede historische Wahrnehmung bereits Wertecharakter besitzt, hängt alles ab von der Persönlichkeit des Wertenden. Nur eine Geschichtsforschung, die auf der Virtus beruht, auf der Tugend des verantwortungsfrohen Mannes, der weiß was er seiner Zeitgemeinschaft schuldig ist, vermag den Gefahren zu trotzen, die sie heute mehr denn je von allen Seiten bedrängen. In zähem Kampf hat sie, so fügen wir hinzu, ihre Freiheit erst zu erkämpfen — und die errungene dann zu verteidigen. Dies lehrt nicht zuletzt die hundertjährige große tragische Enwicklung einer großen Wissenschaft — eben der deutschen Geschichtsforschung.
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