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Ein europäisches Zivilgesetzbuch?

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Versteht man unter Europa da: gesamte Territorium von England bis zum Ural, so wäre eine Gesetzeseinheit sogar auf die lange Dauer sc wenig zu erwarten, daß man möglicherweise von einer Utopie sprechen könnte. Namentlich unterscheidet sich das englische System was Form und Inhalt betrifft — genau wie alle englisohen Institute — sc wesentlich von dem kontinentaleuropäischen System, daß es als auageschlossen erscheint, in dieser Hinsicht die Nordsee zu überbrücken.

Auch die großen Schwierigkeiten, welche sich jetzt sogar auf einem beschränkten ökonomischen Gebiet zwischen England und den EWG-Ländern zeigen, weisen darauf hin, daß Unifikation nicht möglich ist, es sei denn, daß der Engländer bereit Ist, fast alle ihm teuren Einrichtungen über Bord zu werfen und ohne weitere Bagage den Weg über den Kanal anzutreten.

Meiner Meinung nach werden die Schwierigkeiten mit England im allgemeinen zuviel der französischen Politik zugeschrieben, während sie logisch und wesentlich mit der abweichenden englischen Grundeinstellung zusammenhängen und aus dieser hervorgehen.

Was die Länder hinter dem „Eisernen Vorhang“ betrifft, so ist die Lage auch hinsichtlich dieser Staaten schwierig. Von großer Bedeutung ist die Abhängigkeit der Rechtsprechung und des Gesetzgebers von der vollziehenden Gewalt. Trotzdem bin ich der Ansicht, daß im Hinblick auf die „Verbürgerlichung des totalitären Systems“ eine Wiederanpassung der Unterschiede möglich und sicher denkbar ist.

Die Bewohner der Länder hinter dem „Eisernen Vorhang“ denken europäischer als die Engländer, die mit dem Commonwealth verbunden sind, während die Unterschiede eher nicht wesentlicher Art sind, anders als bei den Engländern, bei denen sie aus dem typisch englischen Charakter entstehen.

Mit Bezug auf die übrigen europäischen Länder ist ein europäisches bürgerliches Gesetzbuch nicht nur erwünscht, sondern sogar erforderlich. Zur Zeit sind so viele Rechtsgebiete durch internationale Abkommen zwischen den Ländern geregelt worden, daß — einige spezifisch nationale Themen ausgenommen — die Möglichkeit einer gänzlichen Integration als ausführbar betrachtet werden darf. Denken wir an die Verträge auf dem Gebiet des Personenreohts, auf dem Gebiet des Seerechts, des Luftrechts, die Verträge betreffend Wechsel und Konnossemente und die durch verschiedene Abkommen international geregelte Materie des gewerblichen Eigentums, denken wir an die ver^ schiedenen Reohtsforderungs- und Schiedsgerichtsverträge, so ist damit der Beweis geliefert, daß eine europäische Rechtseinheit eine praktische Möglichkeit bietet. Die Frage, die nun zu beantworten ist, lautet: Auf welche Weise kann die Einheit des europäischen Rechts am besten herbeigeführt werden?

Hier ergibt sich die nicht unwichtige Frage — auf die ich in dieser gedrängten Form nicht näher eingehen kann —, ob die Einheit grundsätzlich durch eine Kodifizierung geschriebener Rechtsregeln oder durch eine Jurisprudenz freier Rechtsfindung zustande gebracht werden muß. Natürlich bleibt, welche Wahl auch getroffen wird, ein gewisser Zusammenhang bestehen, doch meines Erachtens ist es vorzuziehen, ein neuzugestaltendes europäisches Recht in einem Gesetzbuch festzulegen. Dies bedeutet keineswegs eine Mammutgesetzgebung, da der Umfang nicht größer als der Durchschnitt der jetzt geltenden nationalen Gesetzgebungen der verschiedenen Länder zu sein braucht.

Gerade weil die Regelungen der unterschiedlichen Rechtsgebiete jetzt in den verschiedenen nationalen Gesetzgebungen verschiedenartig sind, ist ein neues europäisches Gesetzbuch notwendig im Interesse der Rechtssicherheit Müßte neues Recht kasuistisch durch die Rechtsprechung gebildet werden, so ist w

waiien, aau die verscmeaenen Riohterkollegien das Recht anwenden werden, wie es ihnen gerecht und gebräuchlich erscheint, mit anderen Worten: sie werden das alte nationale Recht weiterhin anwenden oder wenigstens dazu geneigt sein. Dies führt zur Rechtsunsicherheit, da die Rechtsprechung dann in erster Instanz in großem Maße von dem Gebiet abhängig sein wird, wo die Sache anhängig ist.

Ein europäisches bürgerliches Gesetzbuch eröffnet verlockende Perspektiven; das internationale Privatrecht wird, was Europa betrifft, ganz oder größtenteils überflüssig werden mit allen damit zusammenhängenden Schwierigkeiten, wie zum Beispiel der „berüchtigten“ Kollision. Es wird sich nicht länger um internationales Privatrecht handeln oder um das Recht, das jetzt gelegentlich bei Verträgen geregelt wird, sondern um ein „nationaleuropäisches“ System.

Es ist klar, daß edn Bedürfnis nach einem Lokalrecht, das Gegenstände besonderer Art weiter regeln kann, auch in Zukunft bestehen wird. Man vergleiche das Rechtssystem der Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Anwendung des Rechts der verschiedenen Bundesstaaten und des übergeordneten Bundesrechts keine besonderen Schwierigkeiten bereitet.

Wir befinden uns auch auf diesem Wege. In Luxemburg hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft seinen Sitz. In den Niederlanden ist die Rechtsprechung ein interessanter und aktueller Gegenstand und das oberste niederländische Richterkollegium ist zu ihrer Prüfung berufen. Dabei ist von Wichtigkeit, daß die niederländische Staatsverfassung ermöglicht, supranationalen Behörden Macht zuzuerkennen. Wir folgen der Entwicklung mit Spannung.

Mr. L. de Roy van Zuydewijn, Amsterdam

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