Die Furche Herausgeber
Es war in der "Langen Nacht der Kirchen": Michael Spindelegger, Minister für "europäische und internationale Angelegenheiten", diskutierte vor dicht gefüllten Reihen über sein Denken und Handeln. Sprach von den drei Säulen heimischer Außenpolitik: Nachbarschaft, Europäische Union, Internationale Organisationen. Und schwärmte von den vielen Diensten, die Österreich da leisten könne: Am Balkan, im Donauraum bis zum Schwarzen Meer - und im UNO-Sicherheitsrat.
48 Stunden später war die Europawahl geschlagen. Und wir Österreicher (und nicht nur wir) haben dabei einmal mehr klar gemacht: Nachbarschaft, Europa, Weltoffenheit - wen kümmert's wirklich?
Noch keiner fand das rechte Wort
Wer all jene zusammenzählt, die am Sonntag auf den Weg zur Wahlurne verzichtet oder nur den legendären "Denkzettel" eingeworfen haben (gegen die EU, gegen "Überfremdung", gegen Türken, Muslime u.a., gegen die Regierung zuhause …), den schaudert's.
Natürlich: "Wir sind Europa". Wir feiern den 75er unseres "Helden von Brüssel", Alois Mock, der auch den Stacheldraht zum Osten durchschnitten hat. Wir kommen ins Schwitzen, um alle Festakte und Symposien zu besuchen, die jetzt an "20 Jahre freies Europa" erinnern. Und wir sind geschmeichelt, wenn uns Staatsgäste pflichtschuldigst als "Herz vom Herzen Europas" rühmen.
Aber die Wahrheit ist: Europa ist für uns emotionell ein toter Hund. Keine PR-Kampagne und auch kein Geistesriese - Staatsmann, Schriftsteller oder Philosoph - hat bisher das rechte Wort gefunden, um unsere Herzen für die Union zu gewinnen. Europas Kriege, Europas Trennung, Europas verlorene Generationen - was wiegt das noch angesichts des Ärgers über EU-Bürokraten, Teuro, Zuwanderung und Sparlampen?
Dort, wo Europa zu wenig Durchschlagskraft hat - etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik -, gilt es als zahnloser Riese. Dort, wo es seine Wirksamkeit beweist, wirkt es unerträglich einmischend.
Das alles ist nicht neu - aber wo ist der Ausweg? Einfach weitermachen wie bisher: Die Spindeleggers und Co. still tun lassen, was zu tun ist - während des Bürgers Kleinformat die Gegenthesen hämmert? Also akzeptieren, dass Außenpolitik - und dazu zählt enthüllenderweise auch die EU - letztlich Artistik in der Zirkuskuppel ist, weitab von Herz und Hirn der Menschen? So war es bisher, so wird es bleiben …
Die kurzsichtigen Kinder Europas
Nur: Der jüngste Europa-Wahlkampf samt Ergebnis zeigt, dass im Medienzeitalter auf die gute alte Distanz zwischen der fernen Trapezkunst der Experten und dem kritisch-desinteressierten Wahlvolk kein Verlass mehr ist. Dass sich Europa als ideale Projektionsfläche für politische, auch mediale Rülpser jeder Art erweist. Natürlich auch aus EU-eigener Unvollkommenheit - als ewige Baustelle. Vor allem aber aus Mangel an Kenntnis und echten Themen. Keine Partei hat der Verlockung zum Missbrauch (die Grünen vielleicht ausgenommen) ganz widerstanden.
Europa - das war in der griechischen Mythologie eine Königstochter mit weit geöffneten Augen. Ihre Kinder sie sehr viel kurzsichtiger geworden.
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