"Für einen Rastplatz der Reflexionen"

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Der sozialphilosoph oskar negt über die Zukunft der Europäischen Union, die Krise in Griechenland und den Krieg in der Ukraine - und den Fluch des neoliberalismus.

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Der sozialphilosoph oskar negt über die Zukunft der Europäischen Union, die Krise in Griechenland und den Krieg in der Ukraine - und den Fluch des neoliberalismus.

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Der Sozialphilosoph Oskar Negt ist einer der prominentesten Gesellschaftskritiker Deutschlands. Er war Assistent von Jürgen Habermas und lehrte von 1970 bis 2002 an der Universität Hannover. Beim Symposion Dürnstein war Negt der Festredner zum Thema Europa und seine Glücksutopien.

Die Furche: Professor Negt, beim diesjährigen Symposion Dürnstein wurde viel über Utopien und Glücksvorstellungen gesprochen. Ich würde Sie aber zunächst gerne über eine negative Zukunftserwartung befragen: Die ehemalige Bundestagspräsidentin Antje Vollmer und der Schriftsteller Günter Grass meinen, dass der Dritte Weltkrieg bereits begonnen habe. Sie selbst haben davor gewarnt, dass der Rohstoff Angst immer mehr das Handeln bestimmt. Was halten Sie von dieser Debatte?

Oskar Negt: Offen gestanden nicht viel. Ich bin auch mit meinem alten Freund Günter Grass nicht einer Meinung, dass eine Israel-Connection mit der deutschen Rüstungsindustrie Weltkriegspotenzial hätte. Wenn es schon soweit ist, dass ein solches Szenario in Arbeit ist, wo will man da mit Reformen beginnen? Und was sollten wir auch mit dieser Erkenntnis anfangen? Die Apokalypse ist eine unproduktive Vision. Sie blockiert die Phantasie nach Lösungen für Probleme zu suchen und zu arbeiten.

Die Furche: Sucht Europa denn genug nach solchen konstruktiven Lösungen. Wenn man etwa nach Griechenland schaut oder nach Spanien. Sie selbst kritisieren heftig die Sparpolitik, die man diesen Ländern aufbürdet und die sich in sehr hohen Arbeitslosenraten und sozialen Verwerfungen ja auch zeigt. Wie kann die Jugend in diesen Staaten noch eine Vision vom Glück entwickeln, die mit Europa zu tun hat?

Negt: Es ist absolut notwendig, den Verstehenshorizont -man könnte auch sagen, den Utopiehorizont - für Europa zu erweitern. Die EU ist eines der größten gesellschaftlichen Experimente der Geschichte, nämlich dass 28 souveräne Staaten versuchen, eine freie demokratische Gemeinschaft zu bilden. Um dieses Experiment gelingen zu lassen müssten auch Jugendliche in Spanien oder Griechenland sagen können, von Europa profitieren wir. Man müsste also etwas wie eine solidarische Ökonomie entwickeln. Das heißt, ein ökonomisches System, in dem eine ganz andere Verteilungsgerechtigkeit institutionalisiert ist. Und ich glaube, selbst wenn das heute noch abstrakt erscheint, die Nachhaltigkeit dieser europäischen Integration wird schließlich auch davon abhängen, dass die Völker untereinander Lernprozesse entwickeln.

Die Furche: Wenn man die Deutschen jetzt mit den Griechen zusammentun würde, was würde da herauskommen?

Negt: Es wäre sehr viel Feindseligkeit und Gewaltanfälligkeit, nicht aber eine Kooperation auf dieser historischen Ebene.

Die Furche: Wenn man es anders sieht, dann kommt es in den Zeitungskommentaren immer zu dem Punkt, an dem es heißt, einer muss zahlen und einer nimmt. Ist das ein Gedanke, den sich Europa in dieser Situation leisten kann?

Negt: Die kapitalistische Denkweise bedingt, dass im Grunde das Konkurrenzprinzip für die Lebenszusammenhänge bestimmend ist. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass ich meinem Nachbarn nicht selbstverständlich helfe, sondern -wenn ich in Konkurrenz mit ihm stehe - ihm wünsche, dass es ihm schlecht gehen möge, und dass er aus dem Markt verschwindet. Robert Musil hat einmal gesagt, dass die Zählebigkeit des Kapitalismus darin besteht, dass er an die niedrigsten Eigenschaften appelliert, weil die auch die verlässlichsten sind.

Die Furche: Sie kritisieren die systematische Vereinsamung und Vereinzelung des Menschen heftig und benutzen da einen geschichtlichen Vergleich: Bei den alten Griechen wurden Bürger, die sich nicht um das Gemeinwesen kümmerten, als Idiotes bezeichnet. Sie beziehen das auf die "Privatisierung" der Existenz. Hat die "Idiotisierung" der Gesellschaft ein Ausmaß erreicht, das ihr Funktionieren in Frage stellt?

Negt: Ich glaube, dass die neoliberale Phase wesentlich dazu beigetragen hat, die Balance zwischen Individuum und Gesellschaft zu stören, und zwar im Sinne eines individualistischen Leistungsbegriffs und einer destruktiven und aggressiven Konkurrenz. Wir sollten versuchen, zurückzukehren zu dem, was man ein gesellschaftliches Lebewesen nennt, das zum Teil individuell, zum Teil durch Beziehungen in der Gesellschaft konstituiert ist. Das ist auch wesentlich, um sich der gegenwärtigen Krise voll bewusst zu werden. Und ich glaube auch, dass wir auf allen Ebenen einen Rastplatz der Reflexionen benötigen, um einmal aus der Wachstumsideologie herauszukommen.

Die Furche: Europa ist nicht nur mit einer ökonomischen Krise konfrontiert, sondern auch mit Krieg. Die Europäische Union scheint sich sehr schwer zu tun, wenn es um militärische Aggression geht, wie das jetzt in der Ukrainekrise der Fall ist.

Negt: Die Beseitigung der diffusen Aggressionspotentiale nach dem Dreißigjährigen Krieg waren möglich, weil man ausschließlich dem souveränen Staat die Vollmacht über den Krieg erteilt hatte. Wir scheinen jetzt ein Stadium erreicht zu haben, in dem es wieder solche Aggressionslust gibt, die zurückentwickelt werden muss. Im Übrigen ist die Aggressionslust, was die Ukraine betrifft, auf beiden Seiten sehr hoch. Auf der Seite der NATO, die sich immer weiter ausdehnt -auf der anderen Seite Putins Aggressionslust, der sich kein feindliches Bündnis vor die Tür schieben lassen will. Man könnte auch sagen, da die alle machtpolitisch denken, müssten sie das eigentlich begreifen, dass das nicht geht.

Das Gespräch führte Oliver Tanzer

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