Tiefe - © Foto: gettyimages / Global_Pics

Im Rausch der Tiefe

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Beim Tauchen in größeren Tiefen gerät das Gehirn gehörig durcheinander. Über das Rätsel der Inertgas-Narkose aus heutiger Sicht.

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Beim Tauchen in größeren Tiefen gerät das Gehirn gehörig durcheinander. Über das Rätsel der Inertgas-Narkose aus heutiger Sicht.

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Kurz nachdem meine Tauchpartner und ich eine Tiefe von 55 Meter erreichen, fühlt sich die Welt zuerst einmal undefinierbar anders an. Das ist ja eigentlich nicht überraschend, denn die Welt 55 Meter unter dem Meeresspiegel ist anders! Bei diesem Tauchgang auf den Philippinen sind wir weiter als die Länge eines olympischen Schwimmbeckens von der Wasseroberfläche entfernt; weit entfernt von den hektischen Menschen, die man über der Wasseroberfläche so trifft, weit entfernt von E-Mail und Parkplatzmangel. Stattdessen schweben wir im diffus-blauen­ Licht der Tiefe zwischen Weichkorallenbäumen und Schwärmen von tanzenden Feenbarschen an einer fast senkrechten Riffwand entlang. Anders! Doch das liegt hier auch an inneren Veränderungen.

Die Evolution hat den Menschen für Bedingungen optimiert, unter denen unsere Vorfahren über Jahrmillionen gelebt haben. Nicht nur sie haben Luft unter normalem atmosphärischem Druck geatmet. Auch all die Säugetiere, Reptilien und Amphibien davor haben nie Luft mit ungewöhnlich hohen Druck geatmet. In den letzten Jahrzehnten hat sich das zumindest für den abenteuerlustigeren Teil der Bevölkerung geändert. In den 1950er-Jahren haben der französische Marineoffizier Jacques-Yves Cousteau und die österreichischen Meeresbiologen Hans und Lotte Hass großartige Pionierarbeit im Tauchen geleistet. Danach wurde der Tauchsport so populär, dass sich mittlerweile Millionen von Menschen jedes Jahr mit Pressluftflaschen unter die Wasseroberfläche begeben.

Je tiefer man mit so einem Gerät taucht, desto höher wird der Umgebungsdruck – und der Druck der Luft, mit der man vom Tauchgerät versorgt wird. Wäre der Atemluftdruck geringer als der Umgebungsdruck, würde man rasch eine kollabierte Lunge erleiden. Jeder Hobbytaucher, der es bis zum Fortgeschrittenenkurs schafft, wird zumindest einmal tiefer als 20 Meter tauchen und somit mehr als den dreifachen Umgebungsdruck atmen. Da ist es schwer, einen klaren Kopf zu behalten. Das liegt nicht nur an eventuell flatternden Nerven: Auch die Inertgas-Narkose bzw. der sogenannte Tiefenrausch trägt dazu bei.

Angst und Euphorie

Als Tauchlehrer lasse ich meine Tauchschüler beim Fortgeschrittenenkurs jedes Mal ein paar Aufgaben ausführen, die das Kurzzeitgedächtnis oder die Koordination testen. Mathematisch zumindest leicht begabte Taucher lasse ich Multiplikationen von ein- und zweistelligen Zahlen ausrechnen; künstlerisch begabte Taucher haben auf einem wasserfesten Zeichenblock ein Selbstportrait zu zeichnen. Diese Übungen werden nach dem Tauchgang unter normalem Druck wiederholt. Die Unterschiede sind teils erstaunlich: Hochbegabte Menschen, die in ihrem Beruf routinemäßig mit Zahlen hantieren, schaffen es in 30 Meter Tiefe nicht, „43 x 3“ richtig auszurechnen. Zeichnerisch begabte Tauchschüler liefern normalerweise mit ein paar Strichen ein ansprechendes Selbstportrait ab, in der Tiefe aber zeichnen sie mit wilden Linien. Neben dem gestörten Kurzzeitgedächtnis und beeinträchtigter Feinmotorik verändert der Tiefenrausch auch den emotionalen Zustand des Tauchers, und zwar je nach Ausgangslage. Wie beim Alkoholgenuss werden ängstliche Taucher oft noch ängstlicher, und die genussfähigen Taucher werden in der Tiefe noch euphorischer.

Je tiefer man kommt, desto extremer wird auch der Tiefenrausch: Im Buch „The Last Dive“ (2000) beschreibt Bernie Chowdhury,­ wie zwei Wracktaucher an der US-Ostküs­te in 70 Meter Tiefe in das Wrack eines deutschen U-Boots aus dem Zweiten Weltkrieg eindringen – und dabei Luft atmen. Der Taucher, der dieses riskante Abenteuer zumindest bis kurz nach dem Auftauchen überlebt hat (eine Dekompressionserkrankung hat ihn danach schnell dahingerafft), berichtete, geglaubt zu haben, von einem Monster (dem U-Boot) verschluckt worden zu sein. Der Tiefenrausch hat ihn so stark erfasst, dass er zu halluzinieren begann. Der Grund für diese Geistestrübung in größeren Tiefen sind der Stickstoff und zum geringeren Teil auch der Sauerstoff in der Atemluft. Diese Gase lösen sich in den Zellmembranen der Nervenzellen im Gehirn und stören dadurch deren Funktionsweise. Weil bei hohem Druck mehr dieser Gase in der Atemluft enthalten sind, lösen sich davon auch mehr in den Körpergeweben: Die bei atmosphärischem Druck harmlosen Gase entfalten erst bei erhöhtem Druck ihre narkotische Wirkung.

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